Tokio

Die Macht der Weiße-Socken-Brigade

Mönche zahlen in Kyoto keine Steuern für ihre Grundstücke. Das könnte sich jetzt ändern, ging aber schon einmal schief. Die „Brigade der weißen Socken“ demonstrierte damals ihre Macht.

Die Macht der Weiße-Socken-Brigade

„Selbst wenn ich in Kyoto bin, den Kuckuck hörend, sehne ich mich nach Kyoto“, seufzte der berühmte Haiku-Dichter Matsuo Basho vor über 300 Jahren. Seine Nostalgie für die alte Kaiserstadt verspüren Westler bis heute. Vor ihrem geistigen Auge erscheinen tief vertraute Klischeebilder: die Sonne über dem Goldener-Pavillon-Tempel und seinem stillen Teich, ein lichtdurchfluteter Bambushain, ein Mönch mit Harke in einem Steingarten, eine weiß geschminkte Maiko im Kimono in einer Gasse aus ziegelgedeckten Holzhäusern.

Aber in der grausamen Wirklichkeit sind solch romantische Bilder schwer zu finden. Das Gesicht von Kyoto sieht genauso charakterlos aus wie das von jeder anderen Millionenstadt in Japan. Sobald man die Tempel, Schreine, Paläste und Gärten am Stadtrand verlässt, ertrinkt man in einem Meer urbaner Hässlichkeit – kastenförmige Apartmenthäuser, Stromkabel- und Telefondraht-Spaghetti über den Straßen, zubetonierte Flussläufe.

Damit hören die Widersprüche dieser Stadt mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern nicht auf: Bis vor 150 Jahren durfte kein Ausländer Kyoto ohne Genehmigung betreten. Heute ist die „verbotene Stadt“ der größte Besuchermagnet nach der Hauptstadt Tokio: Im Jahr 2019 kamen vor der Grenzschließung wegen der Pandemie 8,9 Millionen ausländische Besucher, dazu gesellten sich 44,7 Millionen Japaner. Aber trotz dieses Ansturms sind die Stadtkassen chronisch leer. Kürzlich warnte Bürgermeister Daisaku Kadokawa gar vor einem Bankrott. Die Metropole ächzt schon unter einer Schuldenlast von 860 Mrd. Yen (6,6 Mrd. Euro). Aber bis 2025 sind geplante Ausgaben von 280 Mrd. Yen (2,2 Mrd. Euro) nicht gegenfinanziert.

Die Stadtregierung steuert nun um. Ihr Restrukturierungsplan für die nächsten vier Jahre sieht den Abbau von 550 Stellen im öffentlichen Dienst, die Anhebung des Mindestalters für den Rentnerrabatt in öffentlichen Verkehrsmitteln von 70 auf 75 Jahre und die Kürzung der Subventionen für Kindertagesstätten vor. Zugleich erwägt der Bürgermeister neue Wege, der Stadt mehr Einnahmen zu verschaffen und die Pleite abzuwenden. Sonst würde das stolze Kyoto unter die Aufsicht der Zentralregierung im verhassten Tokio kommen.

Die erste Option: Man erlaubt den bisher verbotenen Bau von Hochhäusern. Aufgrund deren größerer Nutzflächen würde die Stadt mehr Immobiliensteuern einnehmen. Doch Kyoto ist nach chinesischem Vorbild als rasterförmiges Straßengitter auf einer Ebene zwischen Bergen im Norden, Westen und Osten angelegt. Im freien Blick auf die umgebenden Hügelketten wurzelt die Schönheit der Stadt. Alte Bausünden, darunter der Kyoto Tower (131 Meter) und das Kyoto Hotel (60 Meter), beweisen, dass Wolkenkratzer nicht zur alten Kaiserstadt passen. Doch die starke Finanznot könnte dazu führen, dass man höhere Gebäude im ohnehin verschandelten Gebiet rund um den Bahnhof erlaubt.

Der zweite Weg zu mehr Geld führt zu den buddhistischen Tempeln­ und shintoistischen Schreinen, die offiziell von Unternehmen betrieben werden. Trotz ihres riesigen Immobilienbesitzes zahlen die Mönche, die insofern auch Geschäftsleute sind, keinen einzigen Yen an Grundsteuern. Allerdings ist die Einführung einer Sonderabgabe schon einmal am hartnäckigen Widerstand der Mönche und ihrer politischen Unterstützer gescheitert. Ab 1983 sollten 37 Tempel und Schreine für jeden Touristen 50 Yen (damals 54 Pfennig) abgeben. Doch mehrere berühmte Stätten, darunter auch der Goldener-Pavillon-Tempel, schlossen lieber monatelang ihre Pforten, als den neuen Obolus an die Stadt zu entrichten.

Nach vier Jahren Streit vermittelte der Gründer des Elektronikriesen Kyocera, Kazuo Inamori, schließlich einen Kompromiss. 1987 verzichtete die Stadt auf die Sondersteuer. Seitdem gilt im Rathaus die Regel, sich nicht mit der „Brigade der weißen Socken anzulegen“. Unter ihren weiten Gewändern tragen buddhistische Mönche nämlich Socken aus weißer Baumwolle. Zwar schlug ein früherer Stadtabgeordneter nun vor, dass die Mönche statt einer Steuer künftig Spenden in die Stadtkasse überweisen sollen. Aber so eng müssen die Stadtväter den Gürtel bislang noch nicht schnallen, als dass sie diese Büchse der Pandora öffnen würden.