Washington

Die Pandemie der Impfunwilligen

Im Frühjahr waren die USA in Sachen Corona-Impfungen der Musterknabe der westlichen Welt. Nun aber wurden sie von Europa überrundet. Experten fürchten, dass kein Ende in Sicht ist, solange sich Millionen von Menschen der Impfung verweigern.

Die Pandemie der Impfunwilligen

In den USA geht nach dem steilen Anstieg im Sommer die Zahl der täglichen Neuinfektionen mit dem Coronavirus ebenso wie die Zahl der Todesfälle nun langsam zurück. Doch der Zwischenerfolg lässt zu wünschen übrig: Mittlerweile haben nämlich fast alle europäischen Länder die Vereinigten Staaten in Sachen Impfquote deutlich überholt, und es besteht kaum Hoffnung, dass jene US-Bürger, die nicht einmal die erste Spitze erhalten haben, jemals den Gang in die Klinik auf sich nehmen werden. Auffallend ist dabei die politische Trennlinie: In der Regel sind Impfgegner nämlich zugleich jene Menschen, die im vergangenen November Donald Trump ihre Stimme schenkten.

Die Zahlen sprechen Bände: Im April und Mai, nachdem die Impfstoffe der Pharmakonzerne Pfizer/Biontech, Moderna und Johnson & Johnson auf den Markt gekommen waren, gingen die USA mit gutem Beispiel voran, verteilten die Vakzine in Rekordtempo und waren in diesem Punkt der Musterknabe unter den Industrieländern. Trotz des positiveren Trends der letzten Wochen stimmen die Zahlen aber nachdenklich: 56% der US-Bürger haben beide Spritzen erhalten, etwa zehn Prozentpunkte weniger als die meisten EU-Staaten, und die Zeichen stehen zudem auf Stagnation.

Das ist umso bedenklicher, da die Delta-Variante die Zahl der Erkrankungen gegenüber dem Frühjahr wieder deutlich nach oben getrieben hat. So meldet die Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) derzeit etwa 100000 Neuinfektionen und circa 2000 Todesfälle pro Tag. Auch wurde am vergangenen Wochenende der traurige Meilenstein von 700000 Sterbefällen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie überschritten. Zur Veranschaulichung: Einen von 428 Amerikanern hat die Pandemie bis heute das Leben gekostet.

Dabei wollen trotz der grassierenden Delta-Variante viele US-Bürger von den Vakzinen nichts wissen. Folglich haben 80 Millionen Menschen nicht einmal die erste Spritze erhalten. Die meisten von ihnen leben in „roten“, also republikanischen Staaten. So sind in West Virginia, Wyoming und Idaho im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die wenigsten Menschen geimpft, in einigen Gegenden nicht einmal jeder Vierte. Nicht weit davor liegen die Südstaaten Georgia, Texas, Louisiana, Mississippi, Arkansas und Texas – alles traditionell republikanische Hochburgen, in denen Trump mit Ausnahme von Georgia sowohl 2016 als auch 2020 haushohe Siege feierte.

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Viele der Impfunwilligen sind Anhänger der sogenannten QAnon Verschwörungstheorien, die zu­gleich fest überzeugt sind, dass die Demokraten Trump die Wahl gestohlen haben, er noch im Herbst eine „Reinkarnation“ erleben und zum Präsidenten gekürt werden wird. Einige der Trump-Loyalisten organisieren sogar regelmäßige Veranstaltungen, in denen sie gegen die Vakzine wettern und vor vermeintlichen lebensgefährlichen Nebenwirkungen warnen.

Der Unternehmer Clay Clark aus Oklahoma lädt zu seinen „Konferenzen für Gesundheit und Freiheit“ Tausende Menschen ein und rät ihnen von Corona-Impfungen ab. Zahlreiche Spender des ehemaligen Präsidenten sowie der in Ungnade gefallene Ex-General Michael Flynn, der unter Trump für kurze Zeit Nationaler Sicherheitsberater war, führen die Bewegung „ReAwaken America“ an, zu deutsch: „Amerika, wach wieder auf!“. Auch sie versuchen, ihren Zuhörern Impfungen auszureden.

Die Ärztin Dr. Simone Gold, die wegen ihrer Teilnahme an dem blutigen Aufstand im Kapitol am 6. Januar angeklagt wurde, geht sogar noch weiter. Als prominentes Mitglied der Bewegung „America’s Frontline Doctors“ schimpft sie ebenfalls auf die Impfstoffe und verdient an ihren Ratschlägen dazu noch gutes Geld: Wer bei ihr für 90 Dollar einen kurzen Video-Termin bucht, für den ist sie gern bereit, ein Rezept für ihre „alternativen Therapien“ zu verschreiben.

Der führende US-Immunologe Anthony Fauci glaubt, dass kein Ende der „Pandemie der Ungeimpften“, wie er sie nennt, in Sicht ist, solange weniger als 60% der 330 Millionen US-Bürger beide Spritzen bekommen haben.

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