Präsidentschaftswahl

Frankreichs Verdrossenheit

Von wegen entschieden: Vor den Präsidentschaftswahlen ist die Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung mit Blick auf die Wahlbeteiligung ein reales Risiko. 

Frankreichs Verdrossenheit

Stell Dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin. Während die Bevölkerung der Ukraine unter Einsatz ihres Lebens für den Erhalt der Demokratie in ihrer Heimat kämpft, könnte in Frankreich genau das passieren, wenn in nicht mal zwei Wochen, am 10. April, die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfindet. Bisher ist es den zwölf Kandidaten nicht gelungen, ihre Landsleute zu begeistern und aus ihrer Lethargie zu reißen. Daran dürfte sich auch mit Beginn des offiziellen Wahlkampfes und seinen streng reglementierten Rede- und Werbezeiten nichts ändern.

Wer die Stichwahl am 24. April gewinnen wird, stehe im Grunde genommen längst fest, heißt es nicht nur in Paris. Frankreichs künftiger Präsident dürfte der bisherige sein. Sicher, in Umfragen liegt Emmanuel Macron noch immer deutlich vor Ma­rine Le Pen vom rechtsex­tre­men Rassemblement National (RN), dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise, dem Rechtsextremisten Éric Zemmour von Reconquête und Valérie Pécresse von den konservativen Republikanern. Und doch wäre es ein Fehler zu glauben, die Wahlen seien bereits entschieden. Denn die Politikverdrossenheit der Wähler, der Ukraine-Krieg und die Covid-Pandemie sorgen für einen großen Unsicherheitsfaktor.

Dabei ist die mangelnde Wahlbeteiligung eine der größten Gefahren. Laut einer kürzlich von „Le Monde“ veröffentlichten Umfrage sind gerade einmal 67% der Franzosen sicher, tatsächlich wählen zu gehen. Zum Vergleich: Vor fünf Jahren lag der Anteil noch bei 78%. Das gestiegene Desinteresse zeigt sich auch daran, dass der größte Fernsehsender TF1 am Abend der ersten Runde nicht wie früher eine Sondersendung zu den Wahlen, sondern die Fantasy-Komödie „Die Besucher“ ausstrahlen will.

Die Würfel seien gefallen und es gebe nichts Neues, argumentieren viele, die nicht sicher sind, sich an den Wahlen zu beteiligen. Damit allein die Politikverdrossenheit zu erklären, wäre jedoch zu einfach. Denn sie ist auch Ausdruck einer allgemeinen Lethargie, einer Teilnahmslosigkeit, die die Gesellschaft nicht nur in Frankreich seit Covid erfasst hat. Gleichzeitig wird das politische System der V. Republik immer mehr in Frage gestellt. Das hat bereits das Fiasko der beiden bis dahin dominierenden großen Parteien bei den Wahlen 2017 gezeigt.

Auch im Ausland sorgen die französischen Präsidentschaftswahlen für deutlich weniger Interesse als vor fünf Jahren. Dabei steht dieses Mal weit mehr auf dem Spiel. Dazu gehört das durchaus existierende Risiko, dass bei einer mangelnden Wahlbeteiligung gemäßigter Wähler Le Pen und Mélenchon oder Zemmour in die Stichwahl gelangen, dass sich das Szenario von 2002 wiederholt, als der in Umfragen führende Sozialist Lionel Jospin nicht in die zweite Runde kam. Dieses Szenario wäre nicht nur für Frankreich, sondern auch für Europa und die Finanzmärkte eine Katas­trophe.

Selbst wenn es tatsächlich zu einer Wiederauflage des Duells von Macron und Le Pen in der zweiten Runde kommen sollte, sind die Chancen der rechtsextremen Politikerin im Vergleich zu 2017 deutlich besser. Denn sie profitiert von der Kandidatur des mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilten Fernsehmoderators Zemmour, der sie rechts außen überholt und so geradezu gemäßigt erscheinen lässt. Sollte Le Pen in der Stichwahl gegen Macron antreten, kann sie sich der Stimmen der Anhänger Zemmours, aber auch eines Teils der Wähler von Mélenchon und Pécresse sicher sein.

Damit Macron sein in der ersten Amtszeit begonnenes Reformprogramm fortsetzen und die versprochene Rentenreform durchsetzen kann, bedarf es jedoch eines überzeugenden Wahlergebnisses. Gelingt ihm kein deutlicher Vorsprung in der zweiten Runde und fällt die Wahlbeteiligung zu niedrig aus, werden Reformgegner dies als Argument nutzen, um zu versuchen, das von ihm vorgeschlagene Programm zu verhindern.

Die Präsidentschaftswahlen sind jedoch umso entscheidender, als Frankreich nun vor einer Reihe von Herausforderungen steht. So sind die Staatsverschuldung, das Haushalts- und das Außenhandelsdefizit sowie die Inflation seit Corona stark gestiegen. Der Ukraine-Krieg droht das zuletzt kräftige Wachstum auszubremsen und private Haushalte wegen der Verteuerung der Energie- und Nahrungsmittelkosten zu belasten. Dass die Kaufkraft in Frankreich ein sensibles Thema ist, haben bereits die Proteste der Gelbwesten im Winter 2018/19 gezeigt. Selbst bei einem Wahlsieg erwartet Macron keine leichte Aufgabe.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.