EU-Beitrittskandidat Ukraine

Nichts mehr, wie es war

Eigentlich dürfte die EU der Ukraine nur den Kandidatenstatus verleihen, wenn die Union selbst zu umfassenden Reformen bereit wäre. Das ist aber überaus zweifelhaft.

Nichts mehr, wie es war

Zwar ist die Dynamik von EU-Gipfeln im Vorfeld nie exakt vorherzusagen. Es deutet aber alles darauf hin, dass Europas Staats- und Regierungschefs bei ihrem am Donnerstag und Freitag anstehenden Treffen in Brüssel der Ukraine (und mit ihr auch der Republik Moldau) den Status eines Beitrittskandidaten verleihen werden. Das hätte rechtlich zwar keine wirklichen Konsequenzen, wäre aber ein richtiges und starkes Signal der Unterstützung für ein Land, das sich seit vier Monaten gegen einen brutalen Angriffskrieg wehren muss.

Natürlich: Ohne den Krieg wäre ein Beitritt der Ukraine heute in der EU absolut noch kein Thema. Aber in der jetzigen Situation muss die EU Verantwortungsbewusstsein zeigen, um auch auf internationaler Bühne glaubwürdig zu bleiben. Nicht vergessen werden sollte zudem, dass der europäische Weg der Ukraine schon eine lange Vorgeschichte hat, die bis zur Orangenen Revolution 2004 zurückreicht. Es folgten Konflikte um ein Assoziierungsabkommen, die 2014 zu den Massenprotesten auf dem Maidan in Kiew führten und schließlich zur Annexion der Krim und zum Anzetteln des Kriegs im Donbass durch Russland. Seit 2016 gibt es aber das Assoziierungsabkommen und seit 2017 eine vertiefte und umfassende Freihandelszone. Die Ukraine nimmt schon an mehreren wichtigen EU-Programmen teil und gehört zur Gruppe der östlichen Partnerländer.

Dass das Land beim weiteren Beitrittsprozess keinen „Kriegsrabatt“ erhalten darf und es keinen „Fast Track“ gibt, muss nicht weiter diskutiert werden. Dies ist selbstverständlich. Es gibt klare politische und wirtschaftliche Kriterien, die Kiew erfüllen muss, und die Hausaufgaben, die die EU-Kommission in ihrer positiven Kandidatenstatusempfehlung noch für dieses Jahr formuliert hat, sind eindeutig. Da geht es um Reformen im Justizsystem, im Kampf gegen Korruption und Geldwäsche, im Vorgehen gegen Oligarchen und um einen Rechtsrahmen für nationale Minderheiten. Kritischer könnte ein anderer Punkt werden, der ebenfalls Teil der in den 1990er Jahren aufgestellten „Kopenhagener Beitrittskriterien“ ist: Da geht es darum, wie aufnahmefähig die EU selbst ist.

Davon kann heute nicht wirklich die Rede sein. Eigentlich dürfte die EU der Ukraine nur dann den Kandidatenstatus verleihen, wenn sie selbst zu umfassenden Reformen bereit wäre. Idealerweise müssten die Regierungschefs auf ihrem Gipfel gleich auch einen Konvent beschließen, der zu Änderungen bei Entscheidungsprozessen, der Besetzung der EU-Kommission oder den Zuständigkeiten des Parlaments führt. Dies ist aber leider wenig wahrscheinlich. Niemand beschneidet sich selbst gerne Machtbefugnisse und Veto-Optionen.

Dabei dürfte jedem klar sein, dass ein Beitritt eines so großen Landes wie der Ukraine – auch wenn dieser noch mehr als eine Dekade dauern dürfte – die EU grundlegend verändern würde. Dann ist in der Union tatsächlich nichts mehr, wie es einmal war. Der politische Einfluss und die EU-Haushaltsmittel würden sich deutlich in Richtung Osten verlagern. Und das heutige System rund um Agrar- und Strukturhilfen könnte die Herausforderungen kaum stemmen. Vor dem Krieg lag das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine bei gerade einmal 30% des EU-Durchschnitts. Auf einem Index der globalen Wettbewerbsfähigkeit rangierte das Land zuletzt auf Platz 85. Allein dies zeigt, welcher Aufholprozess noch nötig ist, um das Land in den Binnenmarkt zu integrieren. Die Zerstörungen, die der Krieg anrichtet, sind hier noch gar nicht berücksichtigt.

Vielleicht wäre es im Zuge der Ukraine-Debatten nun an der Zeit, noch einmal über flexible Modelle außerhalb einer EU-Vollmitgliedschaft nachzudenken. Untergruppen mit einer größeren Integrationstiefe gibt es ja längst. Stichwort: Euro- oder Schengenraum. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist kürzlich mit der Idee einer neuen politischen Gemeinschaft außerhalb der EU vorgeprescht. Diese wirkt aber auf den ersten Blick wie eine Zweite-Klasse-Partnerschaft – und zugleich das Eingeständnis der Reformunfähigkeit der EU.

Wozu die derzeit unentschlossene Haltung der EU beim Thema Erweiterung führt, sieht man allzu gut auf dem Westbalkan, wo sechs Länder seit Jahren hingehalten werden, was schon viel Vertrauen zerstört und zugleich dem Einfluss Chinas und Russlands Tür und Tor geöffnet hat. Sollten die Ukraine und Moldau nun den Kandidatenstatus erhalten, müssen zugleich auch die Westbalkanländer eine klarere europäische Perspektive als bisher erhalten. Zudem muss die EU gut aufpassen, nicht auch in Kiew und Chisinau falsche Erwartungen zu wecken.

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