Stille Kündigung

„Quiet Quitting“ auf der Extrameile

Arbeitsrechtler, Headhunter und Unternehmer schlagen Alarm. Der Trend zur „stillen Kündigung“ bedroht jetzt auch in Deutschland die Karrierechancen einer ganzen Generation. In Berliner Amtsstuben ist „Dienst nach Vorschrift“ kein neues Phänomen.

„Quiet Quitting“ auf der Extrameile

Der krisengeplagten deutschen Wirtschaft bleibt aber auch nichts erspart. Erst die Corona-Pandemie mit Chaos in den Lieferketten, dann der Krieg in der Ukraine mit galoppierenden Energiepreisen und jetzt das: In den sozialen Medien schwappt der Trend zum „Quiet Quitting“ aus den USA über den Atlantik und macht plötzlich auch in Deutschland Furore. Was dahintersteckt, weiß keiner so genau. Angeblich wollen immer mehr Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Unternehmen nur noch die Arbeit leisten, für die sie bezahlt werden, statt im Angestelltenverhältnis mit unternehmerischem Antrieb auf die Extrameile zu gehen. Wahnsinn. „Deine Arbeit ist nicht dein Leben“, fasst der Tiktok-Nutzer Zaiad Khan in einem Video seine Motivation zur „stillen Kündigung“ zusammen, das seit Ende Juli mehr als 3,5 Millionen Mal abgerufen wurde. Arbeitsrechtler, Headhunter und Unternehmer schlagen Alarm. Greift Khans Erkenntnis um sich, droht eine ganze Generation ihre Karrierechancen in den Wind zu schreiben, nur um abends pünktlich aus dem Büro nach Hause zu kommen und sich mit Familie, Freunden oder anderen Hobbys zu beschäftigen. Irre.

Nicht jeder kann die Aufregung verstehen. „All diese Artikel über Quiet Quitting sind seltsam, das ist doch genau das, was ganz Deutschland schon seit Jahrzehnten macht“, schreibt ein Nutzer in den sozialen Medien. „In Deutschland sagen wir dazu nicht Quiet Quitting, wir sagen Arbeitszeitgesetz und das finde ich schön“, kommentiert eine Nutzerin. Die stille Kündigung sei nichts anderes als „Dienst nach Vorschrift“, und der liege in Deutschland nicht nur im öffentlichen Dienst schon länger im Trend, heißt es. Ein Selbstversuch auf der Extrameile in einer Berliner Amtsstube liefert schnell die Bestätigung. „Heut is keen Publikumsvakehr. Reichense det ma schriftlich ein.“

Geht es nach dem Meinungsforschungsinstitut Gallup, das seit mehr als zwanzig Jahren regelmäßig die Stimmung unter den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland erfasst, machten zuletzt mehr als zwei Drittel der Beschäftigten hierzulande nur das Nötige am Arbeitsplatz. Etwa fünf Millionen Beschäftigte hätten gar keine emotionale Bindung zum Unternehmen, heißt es in der Erhebung aus dem Frühjahr. Weniger als ein Fünftel fühlt sich demnach an den Arbeitgeber gebunden. Eine größere Herausforderung als stille Kündigungen könnte für viele Unternehmen deshalb schon bald eine steigende Zahl von Kündigungen sein. Immerhin jeder Vierte hat Gallup in ihrer jüngsten Umfrage Abwanderungsbereitschaft signalisiert. Der Anteil steigt auf mehr als zwei Fünftel, wenn man Wechselabsichten innerhalb der nächsten drei Jahre berücksichtigt.

Nach einer Umfrage des auf Personal-Software spezialisierten Start-up Personio im deutschen Mittelstand planen sechs von zehn aller 18- bis 34-Jährigen in Deutschland, in den nächsten zwölf Monaten ihren Job zu wechseln. Auch dieser Datenpunkt stammt aus dem Frühjahr, und die sich abzeichnende Rezession dürfte die Abenteuerlust vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seither erheblich gedämpft haben. Die Hauptgründe für den Abwanderungswillen – nach Einschätzung von Personio-Experte Emil Mahr sind es fehlende Karrierechancen, zu viel Stress und insbesondere schlechte Führungskräfte – sollten den Unternehmen dennoch mehr zu denken geben als Tiktok-Videos, in denen ein Arbeitstag mit weniger als 16 Stunden als Beginn einer Revolution auf dem Arbeitsmarkt gedeutet wird.

„Beim Thema Quiet Quitting geht es um schlechte Chefs, nicht um schlechte Angestellte“, schreiben die Experten Jack Zenger und Joseph Folkman, die Führungskräfte beraten, in der „Harvard Business Review“. Nach Einschätzung des PR-Beraters Ed Zitron, der unter anderem für die Start-up-Szene tätig ist, wo die Extrameile in den meisten Fällen fest eingeplant ist, geht es in der Diskussion auch um einen Vorwand dafür, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu dämonisieren, die sich nicht umsonst zu Tode arbeiten wollten. „Das Einzige, was hier diskutiert werden sollte, ist, warum das Wort ‚kündigen‘ verwendet wird, wenn Personen sowohl angestellt sind als auch ihre Arbeit erledigen“, sagte er im Gespräch mit dem US-Radiosender NPR.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.