Schanghai

Volksauge, bleib wachsam!

Wenn in Chinas Netzwelten ein so unerhörter Vorgang aufpoppt, dass er auf die Schnelle fast 3 Milliarden Klicks generiert, könnte man in diesen Zeiten glatt einen Zusammenhang mit Lockdown und garstiger Corona-Politik vermuten. Die Sache ist aber noch wesentlich brisanter – es geht um ein Mathe-Lehrbuch.

Volksauge, bleib wachsam!

In einem kommunistischen Staat mit ziemlich gestörtem Beziehungsverhältnis zu Uncle Sam gibt es Grund, an allen Ecken und Enden Verrat zu wittern. Zuletzt scheint Chinas staatlicher Schulbuch- und Erziehungsliteraturverlag People’s Education Press von feindlichen proamerikanischen Kräften unterwandert worden zu sein. In die kürzlich vorgestellte neue Auflage von Unterrichtsbüchern in der chinesischen Paradedisziplin Mathematik für das im September beginnende Schuljahr haben sich Illustrationen mit volkszersetzendem Charakter eingeschlichen. Wären sie unerkannt geblieben, hätte chinesischen Volksschülern moralische Unterwanderung durch perverses Anschauungsmaterial gedroht. Es ist aber alles noch einmal gut gegangen, weil das Volk aufgepasst, mitgedacht und Alarm geschlagen hat.

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Der Frühling 2022 hat der Welt einige neue Erkenntnisse gebracht: Chinesen lassen sich relativ rebellionsarm für Wochen und Monate in einem gesundheitspolitisch wie auch ökonomisch völlig sinnbefreiten Lockdown von Staatswegen einsperren. Sie gehen aber sofort auf die Barrikaden, wenn in der Erziehungspolitik etwas nicht stimmt. Bei den neuen Mathebüchern, die zu pädagogischen Zwecken mit zahlreichen munteren Zeichnungen aufgelockert wurden, hat Chinas Elternschaft mit Entsetzen festgestellt, dass anscheinend einiges nicht stimmt.

Ein klarer Verstoß betrifft den Abstand zwischen den Augen der dort abgebildeten Kinder. Der ist nämlich viel zu weit und das sieht gar nicht hübsch und lustig aus, sondern vielmehr „erschreckend und hässlich“ und ergibt auch keinen tieferen mathematischen Sinn. Dem Urteil der echauffierten Mathebuch-Kritiker nach ist eine solche Darstellung von chinesischen Gesichtern irgendwie rassistisch und erniedrigend, kann also nur einem besonders boshaften, weil westlich unterwanderten Illustratoren-Hirn entsprungen sein.

Als weiteres Indiz, wenn nicht gar als himmelschreiender Beweis für einen Verschwörungscharakter mit US-Kräften als spirituellen Drahtziehern im Hintergrund, gilt die scheinbar fröhlich-kindgerechte Garderobe der gezeichneten Subjekte. Sie ist bunt und peppig, bringt aber eine sinistere Botschaft mit sich. Es sind nämlich Sterne zu sehen und hin und wieder gar Streifenmotive in Rot-Weiß. Jeder, der schon einmal das amerikanische Nationalbanner „Stars and Stripes“ gesehen hat, weiß natürlich, was hier gespielt wird. Nämlich unterschwellige Indoktrination mit US-Hegemonialsymbolen, die vor dem Einmaleins nicht haltmacht.

Was aber ist es, das die USA und das amerikanische Volk so richtig pervers machen? Richtig, der Hang zur Pornografie! Bei näherem Hinsehen will die Mathebuch-Sittenwacht gesehen haben, dass bei einigen der Buben, die da in gestreifter Kleidung herumspringen, bei der Hosenpartie zeichnerisch so gearbeitet wurde, dass man vermuten könnte, der Illustrator wollte Mini-Umrisse von Mini-Genitalien andeuten. Die Sache ist also ernst. Das kann man allein schon daran sehen, dass die Zahl der Aufrufe des empörenden Materials im Internet auf rund 3 Milliarden geklettert ist. So etwas nennt man „Top-Trending-Thema“.

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Was macht ein chinesischer Erziehungsminister in einer solchen Situation mit erdrückender Beweislage? Er schwenkt eilig das weiße Tuch und lässt die unselige Schulbuchedition „rektifizieren und reformieren“. Das Ministerium hat eine Neukonzeption des ruchbaren Materials angeordnet und zudem eine „gründliche Inspektion“ aller landesweit im primär- und mittelstufigen Schulbetrieb eingesetzten Lehrmaterialien versprochen. Es dankt dem Publikum „untertänig“ für seine wertvollen Hinweise. Und es verspricht sicherzustellen, dass Lehrmaterialien „stets der korrekten politischen Richtung und Wertorientierung folgen, die herausragende Kultur Chinas fördern und zum ästhetischen Befinden des Volkes passen“. Das ist nun mal eine gute Nachricht. Die andere ist übrigens, dass der epochale Lockdown in Schanghai am 1. Juni aufgehoben wird.