Moskau

Voller Nostalgie und Alkohol

Während die einen ihrer Sowjetnostalgie frönen, versinken andere in Russland in Gegenwartsdepression. Bei aller antiwestlichen Propaganda dürfte Putin derweil die zunehmende Verwestlichung des Russischen ein Dorn im Auge sein.

Voller Nostalgie und Alkohol

Das St. Petersburger Magazin „Politexpert.ru“, das seine Leser eigener Definition zufolge über die bedeutendsten Ereignissen in Russland und in der Welt informieren will, hat auf seiner Website eine Rubrik eingeführt, die ihresgleichen sucht: „Sehnsucht nach der Sowjetunion“ heißt das Ressort, in dem man in Erinnerung an das angeblich so Schöne aus der Zeit vor der Wende schwelgt. Stars alter Filme etwa lässt man dort hochleben, auch alte Automarken und ihren angeblichen Erfolg. Der Ukraine wird ein Spiegel vorgehalten, wie sie doch unter dem Kommunismus geblüht habe.

Die jüngsten Neujahrsfeierlichkeiten wurden indes eher im Alkohol ertränkt. Wie inzwischen aus den Wirtschaftsstatistiken bekannt ist, haben die Russen zum Jahresende hin ihre zuvor kurz gedämpfte Konsumlust zum Teil wiedererlangt und trotz Ukraine-Krieg Normalität simuliert: Die Gastronomie legte um 5 % zu, der Umsatz bei Sekt stieg im Dezember um 20 %, und auch Wodka wurde mehr produziert. Die Leute passten „sich nach der Teilmobilmachung vom September an und versuchen zu leben wie früher“, erklärte Natalja Subarewitsch, eine der gefragtesten russischen Ökonominnen, kürzlich der Börsen-Zeitung. „Das ist sehr russisch. Nicht sehen, was vor sich geht, sein Privatleben leben und sich einreden, dass ohnehin nichts von einem selbst abhängt.“ Die Leute würden sich „an alle Varianten“ anpassen, „sogar an die schlechten“.

Vielleicht aber ertränken viele auch nur ihre Depression. Denn mit wem man derzeit in Russland auch redet: Niedergeschlagenheit und Ohnmachtsgefühl greifen um sich – gerade auch in der Mittelschicht der Städte, die ja von der Wirtschaftskrise am meisten betroffen ist und der die Zukunftsperspektive abhanden gekommen ist.

Er habe „Küchenschaben im Kopf“, beschrieb kürzlich ein Bekannter diesen Zustand auf die ihm eigene Art im Gespräch. Eigentlich wollte der Frührentner vor einiger Zeit mit seiner Frau auswandern, zumal er mit seiner zweiten Staatsbürgerschaft in einem benachbarten EU-Staat auch die Möglichkeit dazu hätte. Dass er jedoch nach einem kurzen Versuch wieder nach Russland zurückkehrte, erklärte er so: Er und ein Freund seien übereingekommen, dass sie ihrer Leidenschaft, am Abend gemeinsam Wodka zu trinken, vorerst auch noch in Russland nachgehen können. Und dann sei da noch der Hauskater, dem man es nicht zumuten könne, seinen Lebensmittelpunkt zu verlagern. Im Übrigen, so erzählte er weiter, hätten inzwischen buchstäblich alle seiner Bekannten das Weite und im Ausland Zuflucht gesucht: Die einen in Israel, die anderen in Deutschland, und eine, eine Künstlerin, sogar auf den Kanarischen Inseln – jetzt male sie eben dort.

Was sich sonst noch so jenseits von Krieg, Sanktionen und Emigration zuletzt in Russland getan hat: Vor wenigen Wochen hat wohlgemerkt ein Betrunkener versucht, den einbalsamierten Leichnam des Gründers der Sowjetunion, Wladimir Lenin, aus dem Mausoleum am Roten Platz zu stehlen. Der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge ist der Mann am Eingang festgenommen worden. Sanitäter hätten bei ihm dann eine geistige Störung aufgrund von Alkoholismus festgestellt. Vielleicht haben sie aber auch einfach übersehen, dass sich hier Sowjetnostalgie mit Gegenwartsdepression vermischt hat.

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Nicht übersehen sollte man, dass das Russische trotz aller antiwestlichen Propaganda und aller Hinwendung zu China immer weiter mit westlichen Wörtern durchtränkt wird. Wladimir Putin hat die Annäherung seines Landes an den Westen wohl nicht so sehr gewollt, aber paradoxerweise ist sie just in seiner Herrschaftszeit so weit gediehen wie nie zuvor. So hat das Institut für Russische Sprache soeben mitgeteilt, wieder drei neue Wörter in das maßgebliche Orthografische Wörterbuch aufgenommen zu haben – eines davon: „Fotovideofixierung“. Im vergangenen Jahr seien es insgesamt an die 200 neue Wörter gewesen. Zum Teil seien sie in der Pandemie in Umlauf gekommen, zum Teil im Krieg. Eines davon: „Mediafake“.