GastbeitragCompliance

Wie die Praxis das Lieferkettenrecht bewältigt

Das Lieferkettengesetz ist seit einem Jahr in Kraft, doch in der Praxis gibt es noch viele Herausforderungen. Seit Jahresbeginn hat sich der Kreis der betroffenen Unternehmen deutlich erweitert.

Wie die Praxis das Lieferkettenrecht bewältigt

Wie die Praxis das Lieferkettenrecht bewältigt

Erhöhte Relevanz für ausländische Unternehmen – Aufsichtsbehörde BAFA veröffentlicht Risikodatenbank

Von Christoph H. Seibt und Marlen Vesper-Gräske *)

Seit gut einem Jahr gilt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) bereits für insbesondere große, in Deutschland ansässige Unternehmen. Nun – mit Beginn des neuen Jahres – findet es zudem für kleinere Unternehmen, die mindestens 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen, Anwendung und das bedeutet, dass nunmehr rund 5.400 Unternehmen durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) als zuständige Aufsichtsbehörde mit für diesen Bereich zur Zeit etwa 100 Mitarbeitern überwacht werden. Ein Jahr bereits intensiver Praxiserfahrung und erweiterter Anwendungsbereich sind Anlass für eine Bestandsaufnahme und zukunftsgerichtete Hinweise.

Faktische Relevanz

Viele, vor allem auch ausländische Unternehmen, auf die das LkSG an sich nicht anwendbar ist, haben bereits in 2023 infolge vertraglicher Weitergabevorgaben der gesetzlich Verpflichteten ähnliche Menschenrechts-Compliance-Systeme aufbauen müssen, wie originär vom LkSG erfasste Unternehmen. Diese hohe faktische Relevanz des LkSG wird mit der Erweiterung des Verpflichtetenkreises in 2024 nochmals deutlich verstärkt werden. Im Kreis der „Neu-Verpflichteten“ hat eine Unternehmensgruppe trotz deren hoher Anzahl und Bedeutung bislang wenig Beachtung in – sowohl praktischen als auch wissenschaftlichen – Kommentaren gefunden: ausländische Unternehmen (auch aus EU-Mitgliedstaaten) mit Zweigniederlassungen in Deutschland, die die relevanten Mitarbeiterschwellen erreichen. Die jetzt herabgesetzte Schwelle von mindestens 1.000 Mitarbeitern wird besonders für solche Zweigniederlassungen relevant, da diese in der Regel die frühere 3000er-Schwelle nicht erreichten.

Für diesen großen Kreis der ausländischen Unternehmen stellen sich im LkSG-Kontext noch viele Fragen. So ist für diese insbesondere die Reichweite der lieferkettenrechtlichen Verpflichtungen unklar: Werden auch hier die ausländischen Konzerne in ihrer Gänze verpflichtet, d.h. wird z.B. der „eigene Geschäftsbereich“ auch alle Tochtergesellschaften einbeziehen, gleich welcher – oder ob überhaupt ein – Bezug zur deutschen Zweigniederlassung besteht, beispielsweise durch eine Sektorzugehörigkeit oder über gewisse Matrixstrukturen, die personelle Verflechtungen zum Gegenstand haben? Was gilt im Detail für die Art und Weise der Implementierung der LkSG-Verpflichtungen bei ausländischen Unternehmen, welche sich letztendlich nach dem lokal geltenden Recht der Auslandsgesellschaft zu richten hat? Gut beratene Auslandsgesellschaften haben Umsetzungspläne entworfen, warten aber auch auf kurzfristige Praxishinweise durch das BAFA.

Weitere Handreichungen

Bekanntermaßen veröffentlicht das BAFA nämlich in Abständen sog. Handreichungen, also Hinweise und Empfehlungen zur Einhaltung des LkSG aus Sicht der Aufsichtsbehörde, sowie allgemeine Informationen. Zu den bislang fünf veröffentlichten Handreichungen werden dem Vernehmen nach in Kürze weitere hinzukommen, nämlich solche zu den umweltbezogenen Sorgfaltspflichten, zu den Risiken von Kinderarbeit, zum Umgang mit mittelbaren Zulieferern und zum Logistiksektor.

Die Handreichungen zum wirtschaftlich bedeutsamen Logistiksektor und mittelbaren Zulieferern ist (wichtige) Folge des „Gräfenhausen-Falls“. Zur Erinnerung: Im Frühjahr und Herbst 2023 traten LKW-Fahrer eines polnischen Transportunternehmens für bessere – bzw. überhaupt für die Zahlung ihrer– Löhne an der Autobahnraststätte Gräfenhausen in Hungerstreik. In der Folge kam es zu eigen-initiativen Ermittlungen des BAFA gegen diejenigen deutschen Unternehmen, die LkSG-verpflichtet sind und ihre Waren durch den relevanten polnischen Transporteur befördern ließen. Im Rahmen dieser neuen Handreichungen wird insbesondere eine – dann auch verallgemeinerungsfähige – Konturierung des BAFA bezüglich des Rechtsbegriffs der – gegenüber mittelbaren Zulieferern – pflichtenauslösenden sog. „substantiierten Kenntnis“ erwartet.

Fingerzeig der Aufsicht?

Ferner veröffentlichte das BAFA kurz vor Jahreswechsel eine Übersicht über die von ihm verwendeten Quellen zur Ermittlung LkSG-relevanter Risiken (sog. Risikodatenbank). Diese umfasst Quellen zu (i) Menschenrechts- und Umweltrisiken (z.B. Childhood Index von Save the Children; Quecksilber-Emissionen-Index des UN Environment Programme), (ii) gesellschaftspolitischen Kontexten (z.B. Corruption Perception Index von Transparency International; Voice and Accountability Index der Weltbank), (iii) Branchenrisiken (z.B. Environmental and Social Assessment Tool der International Finance Corporation; CSRD Risk Check des MVO Nederland) und (iv) Rohstoffrisiken (z.B. Environmental Criticality of Raw Materials Report des Umweltbundesamts; List of Goods Produced by Child Labor or Forced Labor vom US Department of Justice).

Es wird bei Unternehmen spekuliert, ob mit dieser Veröffentlichung ein Fingerzeig des BAFA verbunden ist, dass in Kürze die Risikoanalysen der dem LkSG unterworfenen Unternehmen auf den Behörden-Prüfstand gestellt werden. Es wäre schon nachvollziehbar, wenn das BAFA sich nunmehr – nach der das Jahr 2023 dominierenden Prüfung von Beschwerdeverfahren und Zuständigkeitsregelungen – der Risikoanalyse als das grundlegendste LkSG-Element, welches sich als roter Faden durch das gesamte Lieferkettengesetz zieht, zuwenden würde. Insofern kann die vom BAFA veröffentlichte Risikodatenbank wertvolle Hilfestellung für die erforderliche abstrakte Risikoanalyse von Unternehmen bieten. Dabei besteht sicherlich kein Zwang, die Quellen der Risikodatenbank des BAFA verwenden zu müssen. Allerdings wird eine vollständige Ignoranz dieser BAFA-Quellen zumindest zu Erklärungsaufwand auf Seiten der Unternehmen führen und eine umfassende Darlegung der eigen-genutzten Quellen erfordern. Der Dokumentation des Weges zum Ziel einer abgeschlossenen Risikoanalyse wird daher zentrale Bedeutung zukommen.

Die Website des BAFA enthält zudem mittlerweile eine Gegenüberstellung der Anforderungen und Prozesse des BAFA-Antragsverfahrens mit dem OECD-Beschwerdeverfahren vor Nationalen Kontaktstellen (NKS). Beschwerden bei einer NKS können bei Annahme durch diese in einem (freiwilligen) Mediationsverfahren zur Bewertung der Einhaltung der – erst Mitte 2023 umfassend aktualisierten – OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zu verantwortungsvollem unternehmerischem Handeln münden. LkSG-Antragsverfahren dienen hingegen der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegenüber Verpflichteten durch das BAFA als staatliche Aufsichtsbehörde.

In der Gegenüberstellung wird zu Recht klar hervorgehoben, dass eine OECD-Beschwerde vor der NKS einem Antrag beim BAFA oder einem Tätigwerden des BAFA nicht entgegensteht. Auch wenn diese Klarstellung an sich eine Selbstverständlichkeit ist, so unterstreicht sie doch die in der Praxis zu beobachtende Entwicklung, dass trotz der Verabschiedung von Lieferkettengesetzen als „hard laws“ mit speziellen staatlichen Durchsetzungsmechanismen die Relevanz von OECD-Beschwerden vor NKS als ein praktischer Anwendungsfall von „soft law“, nämlich der OECD-Leitsätze, keinesfalls abnimmt.

Noch keine Klarheit

Die EU-Institutionen haben im sog. Trilog-Verfahren Mitte Dezember einen politischen Kompromiss zur EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) erzielen können. Trotz der hiermit verbundenen Gewissheit, dass die CSDDD nun bis April 2024 – vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 – offiziell verabschiedet werden wird, besteht noch immer keine Klarheit über den detaillierten Regelungsstand der CSDDD. Auf den politischen Kompromiss folgen jetzt nämlich „technische Abstimmungsrunden“ zum finalen juristisch-technischen Richtlinientext. Gegenwärtig kursiert eine Vielzahl an teilweise unterschiedlichen Interpretationen von „geleakten“ Texten und juristisch unpräzisen Zusammenfassungen, teilweise sogar seitens EU-Institutionen. Daher ist es derzeit noch zu früh für Detailanalysen zur CSDDD. Aber eines steht fest: Das neue Rechtsgebiet des Lieferkettenrechts wird auch über die CSDDD weiter ausgebaut werden und unternehmerisches Handeln sowie die Pflichtenausrichtung der Geschäftsleiter immer stärker beeinflussen.

*) Prof. Dr. Christoph H. Seibt ist Partner bei Freshfields Bruckhaus Deringer und Honorarprofessor der Bucerius Law School in Hamburg, Dr. Marlen Vesper-Gräske ist Principal Associate bei Freshfields.

Prof. Dr. Christoph H. Seibt ist Partner bei Freshfields Bruckhaus Deringer und Honorarprofessor der Bucerius Law School in Hamburg, Dr. Marlen Vesper-Gräske ist Principal Associate bei Freshfields.