AUS DER KAPITALMARKTFORSCHUNG

"Die Korrektur wird nicht ausbleiben"

Wirtschaftshistoriker Ritschl über die Krise 1907 und den Kurssturz 1929, und was sich aus der Rückschau für den Ausblick auf die nächsten 15 Jahre ergibt

"Die Korrektur wird nicht ausbleiben"

Von Albrecht Ritschl *)Vorhersagen sind bekanntlich schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Im Oktober 1929 meinte Starökonom Irving Fisher, die Kurssprünge an der New Yorker Aktienbörse seien gerechtfertigt, und prophezeite ein stabiles Kursniveau. Acht Tage später setzte der Kurssturz ein. Nach drei Jahren waren die Leitindizes um 85 % entwertet, erst 1954 wurde das alte Niveau wieder erreicht.Vorhersagen sind auch dann schwierig, wenn der Blick auf die jüngste Vergangenheit fixiert ist. Die 1920er Jahre standen unter dem Eindruck der Finanzkrise von 1907 mit dem Kollaps des Knickerbocker Trust und anderer Schattenbanken. Rohstoffmärkte spielten da eine Rolle, ebenso das Erdbeben in San Francisco von 1905 mit Verlusten für Banken und Rückversicherer weltweit. 1914 wurde die Federal Reserve gegründet, um die Bankenaufsicht zu verbessern. Insolvente Banken nicht wieder zu unterstützen, war die Maxime der Geldpolitik in der Krise ab 1929. Nur war das US-Finanzsystem außerhalb der Metropolen unterentwickelt. Eine flächendeckende Verbriefung von Hypotheken fehlte; die örtlichen Banken waren dem Kollaps des Immobilienmarkts nach 1929 hilflos ausgeliefert. Hypothekenausfälle haben den Crash nicht verursacht – es ging um neue Industrien wie Autos, Radio, Flugzeuge, Elektrogeräte. Aber die Kombination von beidem gab der Krise ihre Schärfe. Der Preis war hoch Vorhersagen werden einfach, wenn Regulierung die Märkte abwürgt. Ab 1933 herrschte weltweit finanzielle Repression. Die USA führte 1933 das Trennbankensystem ein und 1938 mit Fannie Mae eine Lenkungsbehörde für den Hypothekenmarkt, die der breiten Masse zu billigem Hauskredit verhalf, aber die Marktgesetze aushebelte. Der Preis für die Vermeidung systemischer Krisen war hoch. So lagen in der Bretton-Woods-Ära die Zinsen unterhalb der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten und die Wechselkurse fernab der Kaufkraftparität. Die Operationen am Finanzsystem der 1930er Jahre hatten ihre Erfolge: Krisen und Massenarbeitslosigkeit blieben aus. Aber sie versetzten das Finanzsystem ins Koma.Interessant wird es mit Vorhersagen, sobald die Lehren der Vergangenheit vergessen sind. Ab den 1960ern wurde der internationale Kapitalverkehr liberalisiert, seit den 1970ern allmählich die Verbriefung von Hypotheken in den USA, 1985 der Londoner Finanzmarkt. Schrittweise fielen Hürden, ohne dass Krisen auftraten: Weder der Crash von 1989 noch die Asienkrise von 1997 oder die Dotcom-Blase von 2000 waren Systemkrisen. Das änderte sich, sobald der US-Immobiliensektor voll liberalisiert war. Strukturierte Derivate türmten sich auf und wurden außerhalb des US-Bankensektors gehalten – in Schattenbanken ähnlich wie 1907 sowie in Übersee, besonders in Deutschland. Wie einst blieb auch vor 2007 den Investoren die Risikostruktur dieser Produkte verborgen, und wie damals hielt der internationale Rückversicherungsmarkt dem Systemschock nicht stand. Bequemer AuswegPendeln wir in die Gegenrichtung? Gibt es lange Wellen der Regulierung? Tatsächlich ist die Regulierung der Banken verschärft worden, um ihre Belastbarkeit zu erhöhen, in Europa mehr als in den USA. Keine Eingriffe aber gab es auf dem Hypothekenmarkt. Die Nullzinspolitik der Notenbanken bot einen bequemen Ausweg, um die Marktsanierung hinauszuschieben. Die Geschichte der 1930er Jahre hat sich also nicht wiederholt, es gab keine Welle weltweiter finanzieller Repression. Wohl aber wiederholt sich ein anderes Szenario. Die Parallele ist nicht die Krisenüberwindung ab 1933. Die Parallele ist 1907. Wie damals ist an der Bankenregulierung herumgedoktert worden, das Hauptproblem aber unberührt geblieben. Wie in den 1920er Jahren sehen wir eine Immobilienblase, gespeist von niedrigen Zinsen. Die Korrektur wird nicht ausbleiben.Der nächste oder übernächste Börsenkrach, verbunden mit einer Hypothekenkrise und restriktiver Geldpolitik, kann die kommende Systemkrise werden. Nicht heute, nicht morgen, aber innerhalb der nächsten fünf bis 15 Jahre. Auf 1907 folgte die Scheinblüte der 1920er Jahre. Und dann kam das Jahr 1929.—-*) Der Autor lehrt Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics.