IM INTERVIEW: DIETMAR RIEG

Krise bietet deutschen Firmen auch Chancen

Der Geschäftsführer der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer über US-Staatshilfe und unternehmerische Reaktionen

Krise bietet deutschen Firmen auch Chancen

Herr Rieg, wie schlagen sich die deutschen Firmen in Amerika während der Coronakrise?Es kommt darauf an, in welcher Industrie sie tätig sind. Unternehmen im Reisegeschäft oder in Branchen, die direkt vom Konsum abhängen, trifft es schon extrem hart. Die internationalen Reisebeschränkungen beeinträchtigen das Geschäft auch. Die geschäftlichen Folgen hängen aber auch davon ab, wo die Firmen ihren Standort haben. Es gibt Regionen in den Vereinigten Staaten, die lange nicht so stark von Ausgangsbeschränkungen betroffen sind wie der Großraum New York oder Kalifornien. In welchen Regionen läuft das Geschäft noch oder schon wieder?Ein Maschinenbauer, der kürzlich über schwieriges Geschäft im Nordosten klagte, erfreut sich in Texas anhaltender Nachfrage nach seinen Produkten. In den Südstaaten haben die Fabriken von Mercedes und BMW schon vor einigen Wochen wieder mit der Produktion begonnen. Bei Volkswagen laufen die Bänder mittlerweile auch. Gab es amerikanische Staatshilfen für US-Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen?Wir wissen von einigen Mittelständlern, dass sie Hilfen beantragt und auch bekommen haben. Sie nutzen Programme wie das Paycheck Protection Program (PPP), mit dem die Beschäftigung für Unternehmen mit bis zu 500 Mitarbeitern gesichert werden sollte. Die meisten deutschen Firmen sind ja Mittelständler. Die Umsetzung dauerte aber teilweise lange, es wurden auch nicht alle Firmen berücksichtigt, und zudem hakte es bei Detailfragen. Beispielsweise war nicht klar, ob Angestellte der deutschen Muttergesellschaft mitgezählt werden mussten. Es gab außerdem Programme von Bundesstaaten, die deutsche Firmen in Anspruch genommen haben. In den Vereinigten Staaten gibt es rund 4 600 Unternehmen mit deutschen Muttergesellschaften. Auf diese Firmen entfiel zuletzt ein Fünftel der Umsätze, die deutsche Unternehmen insgesamt im Ausland erwirtschaften. Wird sich an der großen Bedeutung der USA in Zukunft etwas ändern?Nach einer aktuellen Umfrage der Auslandshandelskammern fürchten 78 % der deutschen Unternehmen in den USA eine dramatisch schlechter werdende Wirtschaftsentwicklung. Lediglich 3 % hoffen auf einen Aufschwung. Mehr als die Hälfte wollen in den kommenden zwölf Monaten hier weniger investieren. Das wirft sicherlich ein Schlaglicht auf die aktuelle Stimmung. Einige Unternehmen haben auch Mitarbeiter zwangsbeurlaubt. Auf der anderen Seite wird der unternehmerische Einfallsreichtum in den Vereinigten Staaten auch Chancen eröffnen. Die Erholung wird aber etwas Zeit in Anspruch nehmen. Welche Chancen meinen Sie?Die Coronakrise ist ein unglaublicher Schock, der einen massiven Strukturwandel und eine rasante Beschleunigung der Digitalisierung mit sich bringt. Firmen reagieren bereits darauf – etwa mit der Digitalisierung des Vertriebs, für den sie vorher Vertreter genutzt haben. Videokonferenzen, die aus der Not geboren wurden, werden sicherlich auch in Zukunft stärker genutzt. Aktuell beschäftigen sich die von Ausgangsbeschränkungen betroffenen Unternehmen aber vor allem damit, ihr Geschäft per Homeoffice aufrechtzuerhalten und Vorbereitungen für eine Rückkehr an ihre Standorte zu treffen. Welche Vorkehrungen muss ich treffen, damit ich einen sicheren Arbeitsplatz bieten kann und sich Mitarbeiter nicht in Gefahr begeben? Wie viele Leute dürfen im Aufzug fahren, und wer drückt den Knopf? Das ist im prozessfreudigen Amerika auch eine Frage der Haftung. Gibt es konkrete Beispiele, wie deutsche Unternehmen die Chancen der Krise nutzen?Mit Schneidemaschinen des Maschinenbauers Bäumer wurden Schaumstoffmatratzen für Krankenhausbetten produziert. Die Schuhpflegemarke Collonil hat ein handliches Pump-Desinfektionsspray entwickelt. Der Baukonzern Turner Construction, eine Tochtergesellschaft von Hochtief, hat zusammen mit dem Army Corps of Engineers in Rekordzeit ein Feldhospital in Stony Brook auf Long Island hochgezogen. Und die längerfristigen Aussichten?Längerfristig, und das nimmt die zuletzt wieder positive Entwicklung der amerikanischen Börsen ja bereits vorweg, sind die Aussichten gut. Es werden komplett neue Geschäftsfelder und Branchen entstehen. Chancen bieten sich für viele Firmen, aber sicherlich in der Informationstechnologie, bei erneuerbaren Energien wie den Offshore-Windparks, beim E-Commerce, der Telemedizin oder der Biotechnologie. Zum Beispiel?Die an der Nasdaq notierte deutsche Firma Biontech arbeitet gemeinsam mit dem amerikanischen Pharmakonzern Pfizer an einem Impfstoff gegen das Coronavirus. Ein anderes Beispiel ist das deutsche Technologie-Start-up Kinexon, das mit Ortungs- und Bewegungssensoren effizientere Produktionsabläufe in Fabriken oder die Messung und Analyse von Daten im Sport ermöglicht. Angesichts der anhaltenden Infektionsgefahr hat Kinexon nun ein Produkt entwickelt, mit dem in Firmen der Sicherheitsabstand unter Mitarbeitern präzise gemessen und eingehalten werden kann. Es ist schon faszinierend, wie schnell manche Unternehmen umschalten. Es geht nur darum, die Chancen auch zu erkennen. Das Interview führte Norbert Kuls.