Merck-CFO Marcus Kuhnert

„Quersubven­tionierung ist definitiv ausgeschlossen“

Der Dax-Konzern Merck hält am diversifizierten Portfolio fest, steuert aber streng nach Renditekriterien und gibt den Segmenten spezifische Rollen – als Wachstumstreiber oder Cash-Bringer, erläutert Finanzchef Marcus Kuhnert im Interview.

„Quersubven­tionierung ist definitiv ausgeschlossen“

Sabine Wadewitz.

Herr Dr. Kuhnert, Merck hat auf dem Kapitalmarkttag eine Strategie des optimierten Kapitaleinsatzes angekündigt. Was muss ein Geschäftsbereich künftig bieten, um Geld für Expansionsschritte zu bekommen?

Strategische Kapitalallokation ist für uns ein ganz entscheidendes Thema. In den letzten Jahren haben vor allem große, transformatorische Transaktionen Merck geprägt. Inzwischen haben wir hingegen viel diversere Wachstumsmöglichkeiten, auch or­ganisch. Wir müssen uns daher sehr klar darüber sein, wie und wo wir investieren. Vor etwa drei Jahren haben wir unser gesamtes Portfolio auf den Prüfstand gestellt. Für die Beurteilung der Geschäfte haben wir dabei zwei Kriterien herangezogen: die Attraktivität der Märkte, in denen sie sich bewegen, und die Ability to Win, also ihre Leistungsfähigkeit. Auf Basis dieser Einschätzung haben wir den Geschäften spezifische Portfoliorollen gegeben.

Damit ist im Konzern der Wettbewerb um Geld eröffnet?

Die Rollenverteilung ermöglicht eine klare Investitionssteuerung. Wir können nicht überall gleichzeitig in Wachstum investieren, denn auch die Cash-flow-Balance im Konzern muss stimmen.

Wie sind die Rollen verteilt?

Es gibt Bereiche, die maßgeblich für das Wachstum des Konzerns verantwortlich sind. Diese Bereiche qualifizieren sich für größere Capex-Investitionen und M&A. Andere Geschäftseinheiten werden eher nach Cash-Gesichtspunkten gesteuert; sie bringen hohe Margen und Liquidität, um die Wachstumstreiber zu finanzieren.

Wird es mit optimiertem Kapitaleinsatz vermehrt zu Veränderungen im Portfolio kommen?

Strategische Kapitalallokation soll genau das leisten: Veränderungen im Portfolio mit Blick auf strategischen Fit und finanzielle Wertschöpfung anzustoßen. Die Übernahme von Versum 2019 ist ein sehr gutes Beispiel, wie wir unser Kapital optimal einsetzen. Im Rahmen der Portfolio-Analyse hatten wir das Halbleitergeschäft eindeutig als strategischen Wachstumsbereich qualifiziert. Daher konnten wir schnell reagieren, als sich uns die Chance der Akquisition in den USA bot, und das Geschäft mit Materialien für die Halbleiterindustrie ausbauen.

Haben Sie Underperformer herausgefiltert, die weder Cash noch Wachstum liefern?

Temporär zählte unser Geschäft mit Effektpigmenten und Additiven für Farben und Lacke zu den Aktivitäten, die wir wieder auf Kurs bringen mussten. Surface Solutions war einige Zeit, vor allem pandemiebedingt, von der Flaute im Automobil- und Kosmetikmarkt in Mitleidenschaft gezogen worden. In den ersten neun Monaten dieses Jahres haben wir aber sehr deutliche Erholungstendenzen gesehen, das Geschäft ist zweistellig gewachsen.

Damit werden Bereiche doch weiterhin quersubventioniert, die einen generieren den Cash für das Wachstum der anderen?

Eine Quersubventionierung ist definitiv ausgeschlossen, genau das wollen wir mit diesem strategischen Ansatz verhindern. Wir investieren nur in Geschäfte, die mindestens ihre Kapitalkosten verdienen und zukünftig die Wachstums- und Margenbringer des Konzerns sein werden. Wachstumsgeschäfte müssen jedoch frühzeitig gefördert werden, damit sie sich zu Cash-Bringern entwickeln können. Gleichzeitig haben wir in der Vergangenheit auch gezeigt, dass wir Geschäfte, bei denen wir nicht mehr der beste strategische Eigentümer sind, konsequent divestieren. Von Quer­subventionierung also keine Spur!

Welche Aktivitäten sind nun bei Investitionen vorne dran?

Mehr als 70% der Investitionen in den Jahren 2021 bis 2025 werden in unsere sogenannten Big-3-Geschäfte ge­hen. Hierzu zählen wir das Process-Solutions-Geschäft unseres Unternehmensbereichs Life Science, das Technologien zur Arzneimittel- und Impfstoffproduktion anbietet, neue Produkte unseres Unternehmensbereichs Healthcare und Semiconductor Solutions, das Halbleitergeschäft unseres Unternehmensbereichs Electronics. Diese Investitionen umfassen Capex, Forschung und Entwicklung sowie M&A. Die Big 3 sollen in den kommenden Jahren rund 80% des Konzernwachstums generieren. Dagegen ist etwa das Geschäft mit Flüssigkristallen in der Rolle des Cash-Bringers.

Damit zeichnet sich aktuell keine größere Portfoliobereinigung ab?

Sie wissen, dass wir unser Portfolio in regelmäßigen Abständen darauf prüfen, ob alle Geschäfte die langfristigen Renditeerwartungen erfüllen und ob wir immer noch der beste strategische Eigentümer sind. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich Merck ja vor Jahren vom Consumer-Health-Geschäft getrennt. Das Gleiche galt für Biosimilars oder das Allergiegeschäft Allergopharma.

Sind mit der differenzierten Investitionsstrategie größere Akquisitionen erst mal ausgeschlossen?

Keineswegs. Die Opportunitäten und Wachstumsmöglichkeiten sind nun jedoch facettenreicher. Wir schauen nicht mehr so intensiv nach größeren Akquisitionen wie noch vor einigen Jahren, als wir das Portfolio deutlich stärker weiterentwickeln mussten. M&A ist nun ein Element von mehreren, mit denen wir unser zukünftiges Wachstum realisieren und die Wettbewerbsfähigkeit unseres Portfolios stärken wollen.

Der nächste Mega-Deal ist also nicht in der Pipeline?

In den nächsten zwei Jahren werden wir voraussichtlich eher eine Reihe kleinerer Transaktionen durchführen als den einen großen transformatorischen Deal. Es geht uns darum, die drei Unternehmensbereiche gezielt zu verstärken. Falls sich jedoch eine einmalige Gelegenheit ergeben sollte und sie finanzierbar wäre, würden wir uns das sicherlich anschauen. Es ist aber wesentlich wahrscheinlicher, dass wir kleine und mittelgroße Transaktionen angehen.

Wie weit geht mittelgroß?

Nageln Sie mich nicht auf eine Zahl fest, aber deutlich kleiner als zuletzt Versum – das war ein Volumen von rund 5,8 Mrd. Euro.

Finanzieller Spielraum ist nach dem Schuldenabbau vorhanden. Im kommenden Jahr werden Bonds über 1 Mrd. US-Dollar und 550 Mill. Euro fällig. Werden Sie den rekordhohen Cash-flow nutzen, um zu tilgen, oder werden Sie refinanzieren – die Konditionen sind ja noch günstig?

Das hängt natürlich davon ab, ob wir bis Ende 2022 auf dem M&A-Markt aktiv werden. Wenn man das außen vor lässt, hätten wir auf jeden Fall genug Cash-flow, um beide im nächsten Jahr fälligen Bonds zu tilgen. Wenn keine größere oder mittelgroße Akquisition gestemmt wird, müssten wir Stand heute nicht refinanzieren.

Der Cash-flow würde ohne Refinanzierung auch noch für die geplanten Investitionen reichen?

Der Konzern hat die Generierung von Cash-flow deutlich erhöht. Der Mittelzufluss aus dem operativen Geschäft würde ohne Akquisitionen reichen für die Bond-Rückzahlung und die beschleunigte Investitionsplanung – hier werden wir ja nächstes Jahr auf einen Capex-Betrag von rund 2 Mrd. Euro zusteuern.

Wie läuft das Liquiditätsmanagement in Zeiten von Negativzins und Inflation?

Kein Unternehmen kann sich dieser Entwicklung vollständig entziehen, auch Merck nicht. Wir sind derzeit nicht in der Lage, mit unseren liquiden Mitteln einen positiven Zinsertrag zu erzielen, er ist leicht negativ. Wir verteilen die Liquidität im Wesentlichen auf Bankanlagen, Investitionen in Commercial Paper anderer Unternehmen und Geldmarktfonds. Die Inflation an sich hat keinen direkten Einfluss auf das Liquiditätsmanagement, allenfalls indirekt über die Inflationserwartungen, die die Zinsen beeinflussen. Am kurzen Ende der Zinskurve sehen wir im Moment trotz steigender Inflation noch relativ wenig Bewegung.

Treffen Sie Vorkehrungen zum Schutz gegen eine stärkere Geldentwertung?

Hedgen kann man nicht wirklich. Den zuverlässigsten Schutz gegen Inflation sehen wir in effizienten Kostenstrukturen und Preiserhöhungen. Dafür ist es entscheidend, in welchen Geschäften man unterwegs ist und welche Preissetzungsmacht ein Unternehmen hat.

In welchen Geschäften bekommt Merck gegenwärtig einen Kostendruck aus Rohstoffpreisen am stärksten zu spüren?

Eindeutig im Bereich Electronics. Hier haben sich einige Rohstoffe durch den inflationären Preisdruck, Naturkatastrophen, Energieknappheit und logistische Einschränkungen deutlich verteuert, zum Beispiel die technischen Lösungsmittel PGME und PGMEA. Das ist etwas schmerzhaft, doch wir haben die Situation bislang gut im Griff. Zudem schauen wir intensiv auf alle Lieferketten, um unter allen Umständen Knappheit oder sogar Ausfälle von wichtigen Rohstoffen zu vermeiden. Das ist uns bisher sehr gut gelungen.

In welchem Umfang gelingt es derzeit, Preissteigerungen bei Vorprodukten an die Endkunden weiterzugeben?

An der Spitze steht hier Life Science. In diesem Geschäft hat Merck durchweg eine gute Marktposition. Zudem geht es in der Regel um Produkte, die in der Wertschöpfungskette der Kunden einen überschaubaren Wertbeitrag haben, in der Pharmaproduktion oder Pharmaforschung aber extrem wichtig sind. Das gibt uns eine gute Pricing Power. Das gilt prinzipiell auch für das Electronics-Geschäft, wenn auch weniger ausgeprägt und nicht über das gesamte Sortiment. Das Geschäft ist stärker volumengetrieben und insgesamt preissensitiver. Am unteren Ende rangiert Healthcare, weil das Pharmageschäft stark reguliert ist.

Damit sind in der Pharma enge Schranken für Preiserhöhungen gesetzt?

Ja, allerdings bekommt Healthcare auch deutlich weniger Druck aus Teuerungen auf der Rohstoffseite zu spüren. Der Bereich hat zudem von allen drei Unternehmensbereichen die höchste Bruttomarge, sie lag im dritten Quartal bei über 70%. Damit ist er dem Einfluss höherer Rohstoffpreise weniger stark ausgeliefert.

Wie bekommt Merck als Zulieferer der Halbleiterindustrie die Chipkrise zu spüren?

Wenn ein bestimmtes Produkt bei den Kunden unserer Kunden knapp wird, halte ich das grundsätzlich für ein gutes Zeichen. Denn es veranlasst die Halbleiterindustrie, ihre Kapazitäten auszubauen. Das wird auch unser Geschäft langfristig und womöglich schon mittelfristig voranbringen. Große Chiphersteller haben große Investitionen angekündigt, das sendet für uns das klare Signal, dass es in dem Geschäft boomen wird.

Das spiegelt sich aber noch nicht in Ihrer kurzfristigen Prognose für das Segment Electronics?

Für 2022 sind wir sehr zuversichtlich für das Geschäft mit Halbleitermaterialien. Die Marktindikatoren stehen alle noch auf Grün, die Nachfrage ist extrem robust. In einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung muss man jedoch davon ausgehen, dass der leichtere Teil der konjunkturellen Erholung vorüber ist und man sich auf raueres Fahrwasser einstellen sollte. Wir genießen im Moment die Sonne, bereiten uns aber auch schon auf den nächsten Winter vor.

Wie passt die Wetterprognose zu Ihren ambitionierten Investitionsplänen? Merck will bis Ende 2025 immerhin deutlich mehr als 3 Mrd. Euro in das Electronics-Geschäft stecken.

Daran halten wir fest, die Megatrends in dem Markt sind intakt, wenn wir an Themen wie Digitalisierung oder Internet der Dinge denken. Als strategischer Lieferant müssen wir das Wachstum der Halbleiterindustrie mit einem entsprechenden Kapazitätsaufbau begleiten.

Electronics soll im Halbleitergeschäft nach Ihrer Prognose mittelfristig eine Dynamik erreichen, die über dem Marktwachstum liegt. Was macht Merck schneller als die Wettbewerber?

Hier halten wir zwei Faktoren für besonders relevant. Zunächst die Breite unseres Portfolios, was uns in die Lage versetzt, vom Marktwachstum umfassend zu profitieren. Noch mehr Dynamik sollte sich daraus ergeben, dass Merck im Bereich Se­miconductor-Materialien besonders stark in den Teilbereichen ist, in denen sich künftig das wesentliche Wachstum abspielen sollte.

Um welche Produkte geht es?

Es geht um sogenannte Deposition Materials, wo wir mit der Übernahme von Versum einen großen Schritt nach vorn gemacht haben. Es sind zudem Spin-on-Electronics-Materialien, wo Merck selbst schon vor der Versum-Akquisition stark war. Darüber hinaus noch sogenannte CMP-Slurries für chemisch-mechanisches Polieren, wo wir auch schon eine gute Position hatten. Ein weiteres Wachstumsfeld sind sogenannte Specialty-Gase. In diesen Materialklassen wird aus unserer Sicht in Zukunft die Musik spielen. Daran werden wir stark partizipieren können, zumal wir die Kapazitäten dafür hochfahren und heute schon sehr gute Marktanteile haben. Das verschafft uns die Ausgangsposition, schneller zu wachsen als der Markt.

Sie haben die Kapazitätsengpässe der Sparte Life Science angesprochen. Ist das ein temporärer Corona-Effekt oder Anlass, Kapazitäten dauerhaft zu erhöhen?

Wir schalten auch in Life Science eindeutig auf Expansion. Neben dem Rückenwind aus der Pandemie spüren wir eine zunehmende Dynamik im Basisgeschäft. Die Pandemie hat bestimmte Markttrends verstärkt, die künftig auch das Basisgeschäft nach vorn bringen sollten. Das betrifft zum Beispiel sogenannte neue Modalitäten wie die mit den Corona-Impfstoffen bekannt gewordene mRNA-Technologie. Weitere Beispiele für neue Modalitäten sind virale Vektoren oder Antikörper-Wirkstoff-Konjugate. Das sollte das Marktwachstum für Produkte aus diesen Medikamentenklassen erheblich beschleunigen. Zudem werden Pharma- und Biotechunternehmen mehr Aktivitäten in der Produktentwicklung und -herstellung outsourcen. Auch hier wollen wir unseren Footprint ausweiten, mit Investitionen und gegebenenfalls auch mit gezielten Akquisitionen.

Blickt man auf die regionale Verteilung, liegt der Asien-Anteil der Sparte Life Science mit 25% vom Umsatz deutlich hinter Nordamerika und Europa. Wie will Merck in der Region aufholen?

Das ist ein klares Ziel. Wir sehen in Asien dynamisch wachsende Märkte. Speziell in China entwickelt sich eine forschungsintensive Pharma- und Biotechindustrie. Der Kapazitätsausbau versetzt uns in die Lage, dort zusätzliches Wachstum zu generieren. Zuletzt mussten wir mit unseren Kapazitäten etwas haushalten. Hintergrund ist der Defense Production Act in den USA, der uns während der Pandemie dazu gezwungen hat, über sogenannte Rated Orders die dort vorhandenen Kapazitäten prioritär für US-Zwecke einzusetzen. Dadurch haben sich Lieferungen nach Asien verzögert. Diese Situation wird sich mit dem Ausbau der Kapazitäten entspannen, wir werden für Wachstum intensiver nach Asien schauen und das Produktionsnetzwerk global ausbauen.

Das Healthcare-Geschäft von Merck dagegen ist in Europa und Asien deutlich stärker als in den USA. Muss man mit Blick auf die internationale Reputation nicht im wichtigsten Markt sichtbarer werden?

Der US-Markt ist für einen Pharma­anbieter natürlich extrem wichtig. Auch wir setzen dort einen strategischen Schwerpunkt – und wir holen auf. In den ersten neun Monaten ist das Geschäft in Nordamerika organisch um 17,5% gewachsen, der Umsatzanteil der Region lag bei 24%. Ziel bleibt, die Präsenz dort weiter zu verstärken. Helfen soll uns die Markteinführung neuer Produkte, allen voran das Multiple-Sklerose-Mittel Mavenclad und das Krebsmedikament Bavencio, und auch Tepmetko, ein weiteres Krebsmedikament, soll in den USA weiter zulegen. Auch im dort schon starken Fertilitätsgeschäft rechnen wir uns weitere große Chancen aus.

Wenn man global in den Kapitalmarkt schaut, liegen Aufspaltungen und Carve-outs derzeit wieder im Trend. Sehen Sie sich veranlasst, die Konglomeratsstruktur des Merck-Konzerns zu überdenken?

Das ist für uns überhaupt kein Thema. Wir sehen uns mit der Drei-Säulen-Strategie gut für die Zukunft gerüstet, weil wir in allen Unternehmensbereichen von wichtigen Mega-Trends profitieren, die aktuell die Welt bewegen. Wir haben auch gesehen, dass eine diversifiziertere Unternehmensstruktur in schwierigen Zeiten von Vorteil ist. Die Familiengesellschafter haben zudem das berechtigte Anliegen, ihr Risiko über eine adäquate Zusammensetzung des Portfolios zu diversifizieren.

Das Interview führte

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.