Michael Müller, RWE

„Das Problem ist die Übergangsphase“

RWE-Finanzchef: Wetterabhängigkeit des Strompreises wird zunehmen – Künftig nur noch grüne Anleihen – Hedging-Strategie kommt auf den Prüfstand

„Das Problem ist die Übergangsphase“

Annette Becker.

Herr Müller, das Datum für den Ausstieg aus der Braunkohle steht seit der Bundestagswahl wieder stärker zur Disposition. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?

Ein früherer Ausstieg kann nur gelingen, wenn schnell die erneuerbaren Energien und die Netze ausgebaut werden. Zugleich brauchen wir Back-up-Kapazitäten, denn aufgrund der höheren Wetterabhängigkeit bekommen wir ein deutlich volatileres Energiesystem, Stichwort Dunkelflaute. Je früher dieses Energiesystem aus Erneuerbaren, Speichern und Gaskraftwerken steht, desto früher kommt Kohle nicht mehr zum Einsatz.

Was bedeutet dieser zeitliche Unsicherheitsfaktor für Sie als Finanzvorstand?

Unsere Strategie ist klar: Wir wachsen bei den Erneuerbaren und steigen parallel aus der Kohle aus. Was derzeit in der Politik diskutiert wird, passt in unsere Strategie, denn ein früherer Ausstieg wird mit mehr und schnellerem Wachstum bei den erneuerbaren Energien einhergehen, auch bei RWE. Dafür sind wir mit unserem Portfolio hervorragend aufgestellt. Darüber hinaus müsste für einen schnelleren Ausstieg aus der Kohle ein Kompromiss gefunden werden, der breite Akzeptanz findet.

Sprich: Entschädigung?

Das Entscheidende ist, dass am Ende ein Gesamtkonstrukt gefunden wird, das alle Beteiligten akzeptieren. Dazu gehören vor allem die Mitarbeiter, die Gewerkschaften und die betroffenen Regionen.

Die EU-Kommission nimmt derzeit die Entschädigung von 2,6 Mrd. Euro für den Ausstieg bis 2038 beihilferechtlich unter die Lupe. Laufen Sie Gefahr, dass es zu Ihren Ungunsten ausgeht?

Wir gehen davon aus, dass wir die Entschädigung in diesem Umfang bekommen, unser Schaden übersteigt die Entschädigung deutlich.

Wie berechnet sich die Entschädigungssumme?

Die Entschädigung betrifft die zusätzlichen Kosten, die uns durch den früheren Ausstieg entstehen. Ganz konkret: Tagebaue müssen vom Ende her gedacht werden. Wenn sie früher stillgelegt werden, muss beispielsweise die komplette Renaturierung neu geplant werden. Und für die geänderte Tagebaugestaltung müssen erhebliche Materialmengen bewegt werden. Das alles führt zu einem deutlichen Mehraufwand. Ebenso entstehen auf der Kraftwerksseite Mehrbelastungen durch den notwendigen Umbau von Anlagen, zum Beispiel, weil wir umrüsten müssen aufgrund der unterschiedlichen Kohlequalitäten. Zuletzt stellen auch entgangene Gewinne eine Komponente dar.

Nicht nur Politik und Gesellschaft fordern einen früheren Ausstieg aus der Kohle. Erst kürzlich hat ihr Aktionär Enkraft Capital öffentlich Druck gemacht. Was spricht gegen die Argumentation des Investors?

Deutschland hat gesetzlich festgelegt, aus Kohle auszusteigen. Durch den Verkauf unserer Braunkohleaktivitäten an einen anderen Betreiber käme man diesem Ziel nicht näher. Entscheidend für die Transformation von RWE ist vielmehr das Tempo, mit dem wir unser Erneuerbare-Portfolio ausbauen. Unsere Investoren bewerten uns an der Geschwindigkeit dieser Veränderung – und wir belegen das mit einer entscheidenden Kennzahl: dem Anteil der nachhaltigen Investitionen an unseren Gesamtinvestitionen. Gemäß EU-Taxonomie sind das heute schon mehr als 90 %. Damit bauen wir Windparks und Solaranlagen sowie Speicher. RWE ist ein Spiegel der deutschen Energiewende. Wir sind weiter als viele Teile der Industrie, die diesen Wandel noch vor sich haben.

RWE hat sich frühzeitig mit Verschmutzungsrechten eingedeckt, voraussehend, dass der Zertifikatepreis steigen wird. Bis zu welchem Jahr haben Sie vorgesorgt?

Zunächst einmal: Wenn wir CO2-Zertifikate kaufen, heißt das noch lange nicht, dass wir im Anschluss in diesem Umfang auch CO2 emittieren. Für den tatsächlichen Kraftwerkseinsatz sind Angebot und Nachfrage am Strommarkt entscheidend. 2020 war beispielsweise ein sehr windreiches Jahr, entsprechend ist unsere Braunkohlenflotte kaum gelaufen. Dieses Jahr weht weniger Wind, und aufgrund der extrem hohen Gaspreise laufen die Gaskraftwerke kaum. Daher wird vermehrt Kohle verstromt – obwohl die CO2-Zertifikate heute deutlich teurer sind als letztes Jahr. Der Einsatz der Kohlekraftwerke hängt also davon ab, ob genügend Erneuerbare und Gaskraftwerke Strom produzieren.

Dennoch haben Sie CO2-Zertifikate auf Halde.

Richtig, wir haben uns finanziell bis 2030 abgesichert. Aber Sicherungsgeschäfte beeinflussen niemals den Kraftwerkseinsatz. Sie sichern unser operatives Ergebnis. Im europäischen Emissionshandelssystem steht für jedes Jahr ein festes Kontingent an Zertifikaten zur Verfügung. Die Menge sinkt kontinuierlich und ist schon heute für die Zukunft festgelegt. Mit dem Hedging sichern wir uns lediglich ökonomisch ab.

Wie funktioniert das?

Preissetzend am Strommarkt ist das letzte nachgefragte Kraftwerk. Sein Betreiber lässt es nur dann laufen, wenn der Strompreis über den Kosten für Brennstoff und CO2-Zertifikate liegt. Ist das nicht der Fall, werden CO2-Zertifikate wieder verkauft und Strom an der Börse beschafft. Somit führen unsere Absicherungsgeschäfte nicht zu höheren CO2-Emissionen.

Eine Analystin sprach davon, dass RWE die für die Kohleproduktion erforderlichen Zertifikate schon bis 2030 eingekauft hat.

Das stimmt nicht ganz. Wir haben nur die Menge eingekauft, die unser finanzielles Ergebnis sichert. Wenn wir tatsächlich produzieren, müssen noch viele Zertifikate eingekauft werden.

Unter diesem Aspekt versteht man aber die Argumentation des Investors, der Sie auffordert, einen Schlussstrich unter die Kohleverstromung zu setzen und die günstig eingekauften Zertifikate zu Geld zu machen.

Eben nicht. Durch die gestiegenen CO2-Zertifikatepreise ist die Wirtschaftlichkeit unserer Braunkohlekraftwerke zurückgegangen. Dank der Sicherungsgeschäfte haben wir das ausgeglichen. Würden wir CO2-Zertifikate verkaufen, würde heute ein Gewinn erzielt, aber in den Jahren bis 2030 fehlten Erlöse. Wir brauchen Hedges über die gesamte Periode, um das Ergebnis zu sichern.

Nur wenn Sie die Braunkohlekraftwerke behalten.

Ja, aber selbst wenn wir Kraftwerke heute abschalten, sind wir verpflichtet zu rekultivieren, und dafür entstehen erhebliche Kosten.

Haben Sie dafür keine Rückstellungen?

Natürlich. Aber unsere Planung unterstellt, dass der Kraftwerksbetrieb weitergeht und wir unsere Rückstellungen bis zum endgültigen Ausstieg laufend weiter dotieren. Zudem bereiten wir parallel zum Betrieb im Tagebau die Rekultivierung vor. Würden die Kraftwerke heute stillgelegt, müssten die Tagebaue dennoch fortgeführt werden, um die Rekultivierung wie geplant vornehmen zu können.

Das heißt, Enkraft Capital lässt diesen Aspekt in der Argumentation unberücksichtigt?

Genau. Wir brauchen das Ergebnis, auch das finanzielle Ergebnis aus den CO2-Zertifikaten, um kommende Aufwände bedienen zu können. Und bitte vergessen Sie nicht: Es besteht eine Verpflichtung gegenüber der Region für eine hochwertige Rekultivierung. Dazu stehen wir.

Die gestiegenen Gas- und Strompreise spielen Ihnen als Stromerzeuger in die Hände. Gibt es auch Schattenseiten?

Wir verkaufen unseren Strom größtenteils zwei bis drei Jahre im Voraus. Das heißt, unsere Marge ist gesichert. Steigen die Preise kurzfristig, verändert das unser Ergebnis nicht.

Aber die Terminpreise sind doch auch gestiegen. Sprich: Die Marge steigt.

Das stimmt so nicht ganz. Die Strompreise sind vor allem am vorderen Ende gestiegen. In den späteren Jahren, wo erhebliche Produktionsmengen noch nicht abgesichert sind, sind die Preise nur leicht gestiegen. Entscheidend ist ja nicht der Strompreis, sondern die Marge. Die Strompreise sind zwar gestiegen, die Preise für Brennstoffe und CO2 -Zertifikate aber auch. Das heißt, die Marge hat sich wenig verändert.

Wie beurteilen Sie den Preisanstieg volkswirtschaftlich? Das wird zunehmend zum Politikum.

Volkswirtschaftlich sehe ich das durchaus mit Sorge. Hohe Strompreise verschlechtern die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In­dustrie und belasten vor allem die einkommensschwachen Haushalte. Woher kommen die hohen Preise? Derzeit hängt viel vom Wetter ab. Wird wenig eingespeist aus Erneuerbaren, gehen die Preise hoch, produzieren sie viel, fallen die Preise. Gleiches gilt für den Gaspreis: Hier hängt es davon ab, wie kalt der Winter wird. In einer Situation, wo Märkte unsicher sind, führen solche Knappheitsphänomene zu Über­treibungen. Aber generell gilt: Diese Wetterabhängigkeit wird zu­nehmen.

Keine schöne Aussicht für Verbraucher und Industrie.

Am Ende tritt das ein, was politisch gewollt ist. Der CO2-Preis steigt, damit das Betreiben erneuerbarer Energien wirtschaftlich attraktiv ist. Das Problem ist genau die Übergangsphase, die Phase, in der die Preise schon hochlaufen, aber noch nicht genügend Erneuerbare-Anlagen verfügbar sind. Aufgabe der Politik ist es jetzt, den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen. Je mehr Strom aus Wind und Sonne kommt, desto weniger spielen Gas- und CO2-Preise eine Rolle.

Das Revival der Atomenergie wird in Teilen der EU diskutiert. Ist das eine Phantomdebatte?

Für RWE ist klar: Wir werden unsere Atomkraftwerke nicht weiter betreiben. In Deutschland ist die Diskussion durch. Es gibt einen klaren Ausstiegspfad, den setzen wir um. Es ist im Übrigen wirtschaftlich viel attraktiver, in Erneuerbare zu investieren, als in Kernkraft. Grüne Technologie ist absolut wettbewerbsfähig.

Anfang des Jahres haben Sie den ersten Green Bond emittiert. Ist das künftig die präferierte Form für Fremdkapital, und ist das aus Unternehmenssicht billiger als klassische Anleihen?

Wir schauen nicht nur auf den Preisvorteil. Für uns ist auch der Zugang zum Kapitalmarkt und die Liquidität nach der Emission entscheidend. Da sehen wir bei Green Bonds Vorteile, weil Nachfrage und Liquidität in grünen Instrumenten deutlich höher sind. Unser Green Bond war mehr als dreifach überzeichnet.

Wird RWE eine eigene Green-Bond-Kurve aufbauen?

Aus unserem Investitionsprogramm wird eine regelmäßige Emission von Green Bonds kommen, auf fixe Volumina oder Zeitpunkte möchten wir uns aber nicht festlegen.

Setzen Sie bei künftigen Emissionen ausschließlich auf grüne Anleihen?

Ja.

Sie wollen künftig auch in neue Gaskraftwerke investieren, die später auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Sind das nachhaltige Investitionen im Sinne der EU-Taxonomie?

Im Moment dauert die Diskussion dazu in Brüssel noch an. In den vorliegenden Kriterien der EU-Taxonomie für die ersten zwei Umweltziele sind Gas und Kernenergie derzeit noch ausgespart. Klar ist, Deutschland benötigt zusätzliche Gaskraftwerke als Back-up, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Die Investitionsentscheidungen dafür stehen heute an, und dafür braucht es schnell Planungssicherheit.

Der Ausbau der Erneuerbaren und die sich häufenden Wetterextreme sind mit erhöhter Ergebnisvolatilität verbunden. In Texas wurde RWE Anfang des Jahres sprichwörtlich kalt erwischt. Welche Lehren haben Sie daraus gezogen?

Es war klar, dass mit der Entscheidung, das Portfolio stärker auf Erneuerbare auszurichten, eine gewisse Ergebnisvolatilität einhergeht. Was wir aber in Texas gesehen haben, war ein extremes Ereignis, das einen hohen Verlust verursacht hat. Was haben wir daraus gelernt? Unsere Prozesse wurden überprüft. Fehlverhalten hat es nirgendwo gegeben. Wir haben operative Verbesserungsmöglichkeiten erkannt, die werden wir jetzt angehen. Der entscheidende Punkt ist auch hier unser Hedging.

Wie werden Sie das künftig handhaben?

Wir überprüfen, welchen Anteil der Produktion wir künftig noch langfristig absichern. Das schauen wir uns nach einzelnen Geografien an. Dort, wo wir beispielsweise auch Gaskraftwerke betreiben, gibt es portfoliobedingte Offsetting-Effekte. Daraus bestimmen wir den optimalen Hedge-Grad.

In den USA haben Sie jedoch nur Erneuerbare.

Genau. Deswegen reduzieren wir den Hedge-Faktor dort stärker als in anderen Märkten, wo konventionelle Erzeugung dagegensteht.

Im Handelsergebnis im ersten Halbjahr war von einer „außergewöhnlich guten Performance“ die Rede. Woran lag das?

Im Handel schauen wir uns die Märkte an. Wir verstehen das Zusammenspiel von Strom, Gas und Commodities. Immer dann, wenn der aktuelle Marktpreis nicht zu den fundamentalen Daten passt, gehen wir Positionen ein. So waren Anfang des Jahres die Preise nicht stimmig. Wir gingen davon aus, dass es nach Corona zu einer Angleichung kommt, wenn die Wirtschaft wieder anspringt. Genau das ist passiert und die Rechnung ist aufgegangen.

Im Prinzip spekulieren Sie, oder?

So würde ich das nicht ausdrücken. Der Punkt ist, dass wir ein umfassendes Verständnis der Märkte haben und bewusst Positionen darauf eingehen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn der Spread so niedrig ist, dass dazu kein Gaskraftwerk wirtschaftlich betrieben werden kann, der Strombedarf aber da ist, dann muss der Spread steigen. Darauf gehen wir Positionen ein.

Dient das Handelsgeschäft nicht in erster Linie dazu, ihre Erzeugung per Termin zu verkaufen?

Unser Energiehandel besteht aus drei Bereichen. Der Handel ist zum einen der Dienstleister für unser Erzeugungsgeschäft. Hier vermarkten und sichern wir unser Portfolio ab. Dann gibt es den Bereich der Arbitragegeschäfte. Hinzu kommt das Industrie- und Großkundengeschäft. Hier bieten wir unseren Kunden langfristige Lösungen, zum Beispiel sogenannte Power Purchase Agreements. Das heißt, wir beliefern beispielsweise die Deutsche Bahn oder Bosch mit grünem Strom.

Wenn wir schon bei Spekulation sind: Wie lange wollen Sie das Eon-Aktienpaket noch halten?

(lacht) Unser Anteil an Eon hat nichts mit Spekulation zu tun. Es ist eine Finanzbeteiligung und kein strategisches Investment. Wir werden das Paket dann einsetzen, wenn wir es für sinnvoll halten. Es wird also gegen andere Investitionen abgewogen. Aber wir fühlen uns momentan ganz wohl damit.

RWE will sich vom Dividenden- zum Wachstumswert weiterentwickeln. Wie verkauft man das den Aktionären?

Ich wäre nicht so absolut zu sagen, dass wir von einem Dividenden- zu einem Wachstumsspieler werden. Unsere Strategie basiert klar auf Wachstum bei den Erneuerbaren. Auf der anderen Seite wollen wir unseren Aktionären nach wie vor eine attraktive Dividende bieten. Das muss am Ende ausgewogen sein.

Wie erklären Sie sich die vergleichsweise schwache Kursentwicklung von RWE im Vergleich zu Wettbewerbern?

Es kommt auf den Betrachtungszeitraum an. Seit 2016 und der Neuaufstellung haben wir eine starke Kursentwicklung gesehen – und perspektivisch werden wir weiteres Wertpotenzial heben.

Macht Sie die niedrige Bewertung in Kombination mit der Nachhaltigkeitsstrategie nicht zum Übernahmekandidaten?

Nein. Der Markt für Erneuerbare wächst massiv, da ist genug Platz für neue Spieler. Wir verfolgen eine klare Strategie, die vom Kapitalmarkt unterstützt wird. Es geht darum zu liefern, was wir angekündigt haben. Das tun wir.

Ist es unter den gegebenen Rahmenbedingungen in Europa möglich, wie in „Fit for 55“ proklamiert, 40% des Primärenergieverbrauchs bis 2030 aus Erneuerbaren zu bestreiten?

Das ist extrem ambitioniert, aber möglich. Entscheidend ist, dass die Politik jetzt die Weichen dafür stellt. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten.

Das Interview führte

BZ+
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