Wer sich die aktuellen Bewertungen börsennotierter junger Industrietechnikanbieter aus Europa anschaut, würde auf den ersten Blick vielleicht nicht erwarten, dass der Sektor bei Wagniskapitalgebern sonderlich hoch im Kurs steht. Um etwa 50 % ist die kombinierte Marktkapitalisierung der in dem Bereich gelisteten Unternehmen dieses Jahr eingebrochen, wie aus Daten der Analyseplattform Dealroom hervorgeht. Etwa genauso stark sind laut dem Datenanbieter Crunchbase im dritten Quartal auch die weltweiten Wagniskapitalinvestitionen zurückgegangen, was vornehmlich der hohen Volatilität an den Märkten geschuldet ist.

Bei jenen Start-ups, die Lösungen für die industrielle Transformation anbieten und die nicht gelistet sind, ist von der Investorenzurückhaltung paradoxerweise aber nichts zu spüren. Im Gegenteil, die privaten europäischen Start-ups in dem Bereich bilden bei den bisherigen VC-Investitionen 2022 neben Immobilien, Reise- und Personalbeschaffungs-Start-ups die am schnellsten wachsende Gruppe, wie aus dem 3. jährlichen „Industrial Tech Report“ des Early-Stage-Investors Speedinvest hervorgeht. Das in diesem Jahr erreichte Finanzierungsvolumen lag mit insgesamt 4,7 Mrd. Dollar schon im September ungefähr auf der Höhe des gesamten Vorjahres. Bis Jahresende dürften gut 6 Mrd. Dollar erreicht sein, wie es in dem Report heißt.

Aus Sicht von Marie-Helene Ametsreiter, General Partner bei Speedinvest, zeigt sich darin, dass Investoren verstanden haben, dass „Durchbrüche im Industrietech-Bereich ein Schlüssel sind, um Europas Produktivität zu verbessern, aber auch um sicherzustellen, dass der Kontinent seine CO₂-Emissionsziele erreicht“. So machten denn auch sogenannte „Megafinanzierungsrunden“ einem Volumen von über 100 Mill. Dollar den Großteil der Investitionen in klimafokussierte Industrietech-Unternehmen aus. Zu einer dieser Megarunden kam es im März, als die Berliner Digitalspedition Forto 250 Mill. Dollar einsammelte und damit eine Bewertung von 2,1 Mrd. Dollar erreichte.

Die Logistik ist aber auch ganz allgemein der Sektor, in den derzeit das meiste Geld fließt, und zwar mit großem Abstand. Insgesamt 2,5 Mrd. Dollar haben Wagniskapitalinvestoren bislang in dort aktive Start-ups gesteckt, 4 % mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Finanzierungsrunden reduzierte sich zwar von 45 auf 41, aber auch damit lag der Sektor sehr deutlich auf dem ersten Platz. An zweiter und dritter Stelle in Sachen Finanzierungsvolumen stehen die Bereiche Robotics und Energie mit insgesamt 776 Mill. und 392 Mill. Dollar. Das stärkste Wachstum bei den Wagniskapitalinvestitionen verbuchten zuletzt Start-ups aus dem Bereich virtuelle bzw. erweiterte Realität für die industrielle Anwendung. Hier versechsfachten sich die Investitionen auf 255 Mill. Dollar. Holo One aus der Schweiz etwa, die eine Augmented-Reality-Kollaborationsplattform für Unternehmen z. B. aus dem Maschinenbau oder der Fertigungsindustrie bietet, erhielt im März in einer Series-A-Finanzierungsrunde 8 Mill. Dollar.

Über die mit Abstand größte Finanzierungsrunde durfte sich die finnische Relex bislang freuen. Das Unternehmen, das Lieferkettenlösungen für den Einzelhandel bietet, hat im Februar 500 Mill. Euro eingesammelt, ist zum Einhorn mit einer Bewertung von 5 Mrd. Euro aufgestiegen und hat Finnland damit auf den dritten Platz im VC-Industrietech-Länderranking befördert. Auf Platz 1 steht Deutschland, was angesichts der hohen Bedeutung des fertigenden Gewerbes hierzulande nicht weiter überraschen dürfte. Auf Platz 2 liegt Frankreich.

Es sind nicht immer nur reine VC-Ge­sellschaften, die Start-ups mit Wagniskapital versorgen. Auch Unternehmen treten immer häufiger selbst als VC-Investor auf. So haben sich solche Corporate-Investitionen im Industrual-Tech-Bereich im Vergleich zu 2020 mit gut 800 Mill. Dollar verdoppelt − und dürften im Gesamtjahr bei etwa 1 Mrd. Dollar landen. „Unternehmen verstehen zunehmend, wie wichtig es ist, mit Start-ups zusammenzuarbeiten, um den eigenen Erfolg und die Langlebigkeit zu sichern“, kommentiert Speedinvest die Ergebnisse.