GastbeitragKünstliche Intelligenz

Industrieunternehmen sollten sich mehr auf ihre Kernkompetenz besinnen

Wie viel Wirtschaftswunder steckt in KI? Bei aller Euphorie rund um neue Technologien darf die Industrie nicht ihre bestehenden Assets aus den Augen verlieren.

Industrieunternehmen sollten sich mehr auf ihre Kernkompetenz besinnen

Gastbeitrag

Industrie sollte sich mehr auf ihre Kernkompetenz besinnen

330 Mrd. Euro – diesen Wert könnte generative Künstliche Intelligenz künftig zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beitragen. Die Zahl wurde kürzlich im Rahmen einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts IW Consult veröffentlicht. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik im vergangenen Jahr in Höhe von 3,87 Bill. Euro erscheint diese Summe natürlich attraktiv. KI könnte demnach einen immensen Wachstumsschub hierzulande bewirken.

Die Betonung liegt dabei aber auf dem Wort „könnte“. Erstens sollte bei einer solchen Studie nie vergessen werden, in wessen Auftrag sie durchgeführt wurde. In diesem Fall steht hinter der Erhebung niemand anderes als Google. Mit Blick auf den anhaltenden Wettkampf der Tech-Giganten Google und Microsoft um die weltweite Vormachtstellung bei KI wird das Studienergebnis so zumindest in ein etwas anderes Licht gerückt.

Zweitens muss der Begriff „generative KI“ und ihre Leistungsfähigkeit adäquat eingeordnet werden. Unabhängig von der wirklich rasanten Entwicklung, die beispielsweise bei ChatGPT in den vergangenen Monaten zu beobachten war, darf der Fortschritt nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Technologie Schwächen aufweist. Große Sprachmodelle wie ChatGPT garantieren keine wahrheitsgemäßen Ergebnisse – man bezeichnet das als „Halluzinieren“. Diese Systeme basieren im Prinzip auf Statistik, das heißt es werden begonnene Sätze so weitergeführt, wie es am wahrscheinlichsten ist, was aber nicht zwingend zu einer wahren Aussage führt.

Können von KI wird überhöht

Diese Information ist nicht nur für einen verantwortungsbewussten Umgang mit generativer KI wichtig. Sie steht vor allem stellvertretend für ein Phänomen, das seit langer Zeit zu beobachten ist: In der allgemeinen Euphorie rund um interessante Technologien wie KI – oder auch Quantencomputing – wird schnell dazu tendiert, die Fähigkeiten dieser Systeme zu überhöhen und sie als regelrechte Heilsbringer für allerhand Probleme darzustellen. Doch kann KI tatsächlich ein neues Wirtschaftswunder bewirken?

Natürlich wirkt sich KI in vielerlei Hinsicht auf unser Leben und Arbeiten hierzulande aus und wird dieses mehr und mehr verändern. Es gibt aber auch noch viele offene Herausforderungen, wie die beschriebene Tendenz von großen Sprachmodellen zum Halluzinieren oder auch die derzeit noch fehlende Möglichkeit, für sogenannte „Maschinelle Lern (ML)-Komponenten“ verlässliche Restrisiken angeben zu können. Derartige Schwächen begrenzen die Anwendung dieser Technologien und verhindern so die Erschließung bestimmter Potenziale. Nehmen wir etwa den Anwendungsfall autonomes Fahren. Unabhängig davon, welcher Automobilhersteller gerade wieder eine neue autonome Fahrfunktion auf KI-Basis anbietet, muss ganz klar gesagt werden: Die Entwicklung eines voll-autonomen Fahrzeugs für den Individualverkehr auf dem höchsten Autonomielevel 5 in unbeschränkten Verkehrssituationen ist zum aktuellen Zeitpunkt ohne Abstriche bei Sicherheit, Verfügbarkeit oder Performanz schlichtweg nicht realisierbar.

Ein solches Fahrzeug ist beispielsweise sicher, aber dann zu langsam oder nicht ausreichend verfügbar, weil es aus Sicherheitsgründen häufig stehen bleibt. Das heißt: Eine vollautonome Fahrfunktion mit hinreichender Sicherheit bei akzeptabler Fahrgeschwindigkeit ohne häufiges Anhalten aus Sicherheitsgründen in beliebigen Verkehrssituationen ist auf Basis der heute verfügbaren Technik nicht möglich. Und das ist der Grund dafür, dass unsere Straßen nicht voller autonomer Fahrzeuge sind.

Unausgeschöpftes Potenzial

Um dieses Dilemma aufzulösen, müssten wir beispielsweise in der Lage sein, die verbleibenden Restrisiken durch die KI-Komponenten in autonomen Fahrzeugen ausreichend genau zu bestimmen. Das können wir aktuell aber nicht. Erst wenn wir diese wirklich harte Nuss knacken, werden wir auch einen klaren technologischen Vorteil für viele attraktive – aber eben sicherheitskritische – Anwendungsbereiche erhalten. Dazu zählen etwa Anwendungen im Industriebereich oder auch in der Medizin. Doch bis dahin ist es noch ein potenziell weiter Weg. Statt sich in schneller Folge der Hoffnung hinzugeben, dass eine bestimmte Technik nun endlich alle Probleme lösen wird, sollten wir uns darauf konzentrieren, zu verstehen, wo die Potenziale einer Technik wirklich liegen. Es gilt zu ergründen, wie sich eine Technik in die bereits vorhandenen Lösungen optimal einfügt und welche Fragen noch beantwortet werden müssen, um Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Wir sollten uns also bemühen, unsere Fähigkeiten im Bereich des Systems Engineerings unter Nutzung neuer Technologien ganzheitlich weiter auszubauen. Schließlich hat Deutschland eine lange Technologie-Tradition, und die Erfahrungen und die Expertise im Engineering sind die tatsächlichen großen Vorteile hiesiger Unternehmen.

Darauf sollten wir jetzt aufbauen und uns überlegen, wie wir unsere Expertise dazu nutzen können, um unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt zu stärken. Ein bislang noch unausgeschöpftes Potenzial liegt etwa in der Antwort auf die Frage, wie es uns gelingen kann, unterschiedliche Engineering-Disziplinen so in einem ganzheitlichen, nachhaltigen Ansatz zusammenzubringen, dass tatsächlich bahnbrechende Neuerungen möglich werden. Wenn wir diese Fähigkeit entwickeln, wird die Wirtschaft einen Wachstumsschub erfahren, zu dem dann auch KI den bestmöglichen Beitrag leisten wird.

Peter Liggesmeyer - Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und Informatik-Professor an der RPTU (Copyright: Fraunhofer IESE)