Digitalisierung

Industrie unter Transformations­druck

Die Pandemie treibt die Digitalisierung als „perfekter Sturm“ und nährt den M&A-Boom im Tech-Sektor, vor allem bei einer neuen Unternehmensgeneration jenseits der Plattform-Ökonomie.

Industrie unter Transformations­druck

Die Krise ist die Chance: Was wie ein abgegriffener Spruch aus einem Management-ABC für künftige Führungskräfte klingt, wird bei den Unternehmen dennoch vielfach Realität. Die Pandemie, so sagen Experten, ist wie ein „perfekter Sturm“ über die deutsche Wirtschaft hereingebrochen, wenn es darum ging, die vielbeklagten Defizite in der Digitalisierung von Geschäftsmodellen, von Produktion und Services zu beschleunigen. Die Skepsis deutscher Firmen, vor allem im Mittelstand, gegenüber der Cloud-Technologie ist vielfach der Einsicht gewichen, „dass man den Sprung in die Cloud wagen muss oder untergehen“, bringt Katharina Heidrich, Partnerin im Bereich Cloud Transformation bei PwC, die Situation auf den Punkt. Von einem „Katalysator“ für die geschäftliche Transformation spricht ihr Kollege PwC-Direktor Jörg Botsch.

Von dem eingetretenen Sinneswandel haben dabei nicht nur die üblichen Verdächtigen profitiert, auch wenn die Wachstumssprünge von US-Technologiegiganten mit starkem Cloud-Geschäft wie Microsoft, Amazon oder Google Investoren bei den Quartalsergebnissen regelmäßig die Sprache verschlagen haben. Junge Unternehmen deutscher beziehungsweise europäischer Provenienz mit Cloud-basierten Geschäftsmodellen sind nach Einschätzung von Botsch sehr gut aufgestellt und wachsen sehr erfolgreich. Dazu zählen Anbieter von Software as a Service (SaaS) wie das einzige deutsche Decacorn Celonis oder auch Webhoster wie die französische OVH Groupe, der 2021 ein milliardenschweres IPO gelang. Getrieben werde der Erfolg unter anderem maßgeblich von der Nachfrage nach heimischen Anbietern, bei denen die Compliance mit einer europäischen Datenregulierung sichergestellt ist, betonen die Experten.

Abgesehen von dem durch die Pandemie erzwungenen Digitalisierungsschub sieht sich die Wirtschaft indes für die kommenden Jahre mit weiteren großen Herausforderungen konfrontiert. Eine ist unmittelbar mit dem Internet und der Cloud-Architektur verknüpft: Die Zahl cyberkrimineller Attacken und die damit verbundenen Risiken und Schäden sind ebenfalls rasant angeschwollen. Ransomware-Angriffe, bei denen Unternehmen mit Datenverschlüsselung und -diebstahl erpresst werden, haben sich laut FBI im zurückliegenden Jahr gegenüber Vorjahr verdoppelt und ihren Wirkungsgrad deutlich erhöht. Sie sind damit für Hacker äußerst attraktiv. Prominentes Beispiel ist der Angriff auf den US-IT-Dienstleister Kaseya im Sommer, der sich über deren Cloud-Netzwerk global wie ein Lauffeuer verbreitete. „Die Kriminellen erweitern damit gezielt die Wertschöpfungskette ihrer Angriffe. Mit einer einzelnen Lösegeldzahlung ist es sehr oft nicht getan“, erklärt Moritz Anders, Partner im Bereich Cyber Security bei PwC. Ein potenzieller Großschaden droht durch die kürzlich entdeckte Schwachstelle bei dem Java-Code Log4j, der bei Unternehmen und Sicherheitsbehörden rund um den Globus Alarmstufe Rot auslöste. Die wachsende Bedrohung spiegelt sich in erhöhten Cyber-Schutz-Ausgaben der Unternehmen. Ein Fünftel rechnet hierzulande 2022 mit einer Budgetausweitung um mehr als 10%, wie Global Digital Trust Insights erhoben hat. Mehr als die Hälfte (56%) aller Firmen rechnet in jedem Fall mit steigenden Aufwendungen. IT-Ausgaben werden global laut Gartner die Summe von 4,74 Bill. Dollar erreichen.

Obwohl oder gerade weil in der Pandemie die Bedeutung der Digitalisierung und auch ihre Schattenseiten so deutlich offenbar geworden sind, dreht sich das M&A-Rad am schnellsten in der – jungen – Tech-Szene. Dem Tech-M&A-Survey von Morrison Foerster zufolge sind Tech-Deals während der Pandemie zu neuen Rekorden aufgelaufen. Nach einen leichten Knick im Sommer 2020 schwang sich das Quartalsvolumen allein in Deutschland in den letzten drei Monaten des Jahres auf 57 Deals im Wert von 12 Mrd. Dollar in die Höhe, ein Plus von 84% gegenüber der Vorjahresperiode. In diesem Jahr ging es bereits weiter nach oben und auch im nächsten Jahr „wird die Party weitergehen“, so Dirk Besse, Co-Managing Partner bei Morrison Foerster und Leiter der europäischen Corporate- und M&A-Praxis, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Ein Drittel der in der Studie befragten Dealmaker gehen für 2022 von einem „signifikanten Anstieg“ der Tech-Transaktionen aus, 43% rechnen mit deutlich steigenden finanziellen Volumina. Dabei spielen wenig überraschend der Cloud-Sektor und Business Intelligence eine herausragende Rolle, auch Cyber Security gerät zunehmend ins Blickfeld.

„Es sind vor allem Unternehmen, deren Technologie ganze Branchen komplett verändern kann, die das M&A-Geschehen antreiben“, erläutert Besse. Dies gelte für „Wegbereiter der Industrie 4.0, aber auch für Sektoren, die in der Pandemie mehr in den Fokus gerückt sind wie Medizintechnik oder Labortechnik“. Nach Besses Einschätzung herrscht „ein ganz enormer Transformationsdruck“ in der Industrie, vor allem durch die große Kraftanstrengung der Dekarbonisierung, aber auch eine veränderte Arbeits- und Produktionswelt. Der M&A-Experte registriert bei Investoren großes Interesse an „einer neuen Generation junger Unternehmen jenseits der Plattform-Ökonomie“ und meint damit Software-Firmen oder auch solche, die im Bereich künstliche Intelligenz tätig sind.

Dominiert wird das Transaktionsgeschehen in der Tech-Szene von Private Equity. Auch wenn die Industrie Bedarf hat, sich technologisch aufzurüsten, zu digitalisieren, um effizienter und wettbewerbsfähiger zu werden, „sehe ich nur sehr wenige deutsche Strategen bei den Deals“, betont Besse. Finanzinvestoren ersticken im Geld und haben teilweise massiven Anlagedruck. Dies beflügelt bei vielen großen Gesellschaften die Hinwendung zu neuen Investmentstrategien. Anstelle von Leveraged Buy-outs werden Growth Funds aufgelegt, die nach jungen wachstumsstarken Unternehmen Ausschau halten. Dabei ziehen deutsche Technologiefirmen vermehrt ausländisches Kapital an, und das benötigen sie auch. Denn hierzulande gibt es einfach nicht „diese konsequente Allokation von Ressourcen auf innovative Geschäftsmodelle, die den US-Kapitalmarkt einzigartig machen“, befindet Besse. Bei allem Optimismus für einen anhaltend starken M&A-Trend im Technologiesektor sieht er auch Bremseffekte. Vor allem drei Faktoren erweisen sich als Hemmschuh: „erstens die wachsende Regulierung des Tech-Sektors, zweitens ein Trend zu Protektionismus in wichtigen Märkten, einhergehend drittens mit wachsenden geopolitischen Spannungen“. Für Wirtschaft und Investoren wird es darauf ankommen, die richtige Balance zu finden, um die Herausforderungen zu meistern.

Von Heidi Rohde, Frankfurt

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