Anlageberatung

Wenn der zweite Schritt vor dem ersten erfolgt

Von August an soll die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen in der Anlageberatung mit entsprechenden Produktempfehlungen Einzug halten. Was darunter zu verstehen ist, ist aber immer noch nicht geklärt.

Wenn der zweite Schritt vor dem ersten erfolgt

Von Silke Stoltenberg, Frankfurt

Viele Unklarheiten und der zweite Schritt vor dem ersten: Unter diesen beiden Überschriften stehen der Fondsbranche die nächsten Umsetzungsschritte des EU-Regulierungsmammutprojekts für eine nachhaltigere Finanzwirtschaft ins Haus: das nächste Level der Offenlegungsverordnung (SFDR), weitere Bausteine der Taxonomie sowie die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen in der Anlageberatung (Mifid II). „Wir werden im kommenden Jahr dicke Brocken umzusetzen und zu stemmen haben“, sagt dazu Magdalena Kuper, Leiterin Nachhaltigkeit des deutschen Fondsverbands BVI. Das Grundsatzproblem dabei ist: Die ab August 2022 verpflichtende Mifid-Abfrage basiert auf Aspekten der Offenlegungsverordnung, die indes erst Anfang 2023 greifen.

Den Vorgaben der Mifid II zufolge soll ab kommenden August die Integration von Nachhaltigkeitspräferenzen in Anlageberatung und Produktausgestaltung erfolgen. Damit gilt die Nachhaltigkeitsvorliebe als ein weiteres Anlageziel und soll bei der Produktempfehlung miteinbezogen werden. Zugleich müssen die Produkte diese Anforderung mit in ihr Zielmarktkonzept aufnehmen. Konkret sollen ab August folgende Produkte für Kunden zur Verfügung stehen, die eine nachhaltige Fondsanlage wünschen: Produkte mit einem beliebigen Mindestanteil an taxonomiekonformen Investments oder an nachhaltigen Investments beziehungsweise Fonds, die sich verpflichten, negative Nachhaltigkeitsauswirkungen (Principal Adverse Impacts, PAI) in bestimmten Bereichen zu vermeiden.

Dummerweise aber ist das Taxonomie-Regelwerk gerade mal am Anfang des Entstehungsprozesses mit bislang zwei Themenfeldern, die zum 1. Januar 2022 gelten: Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel. Es geht also lediglich darum, welche Wirtschaftsaktivitäten mit dem Pariser Klimaabkommen und den Umweltzielen der Europäischen Union kompatibel sind. Zu den politisch strittigen Themen Gas und Atom gibt es bislang nur den Vorschlag der EU-Kommission hierzu, diese in die Taxonomie einzubinden. Die nächsten Umweltthemen (Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Umweltverschmutzung, Schutz von Wasser und Meeren sowie der Ökosysteme) sollen sogar erst zum 1. Januar 2023 gelten. Und erste Konzeptpapiere zu den anderen, übergreifenden Nachhaltigkeitskriterien – Soziales und gute Unternehmensführung – müssen erst einmal geschrieben werden.

Mehr Fragen als Antworten

Damit lässt sich im August 2022 also kaum beantworten, was alles taxonomiekonform ist. Ebenso wenig Klarheit gibt es bei der zweiten möglichen Produktgruppe der nachhaltigen Investments. Hierfür gibt es bislang gar keine Vorgaben. Und bei der dritten Gruppe, den PAI-Faktoren, müssen erst Anfang 2023 auf Produkt- sowie Mitte 2023 auf Gesellschaftsebene entsprechende Berichte vorgelegt werden. Hier geht es darum, negative Auswirkungen auf verschiedene Nachhaltigkeitsfaktoren (z.B. Treibhausgase, Biodiversität, soziale Aspekte) durch Investitionsentscheidungen zu vermeiden.

Die PAI-Berichterstattung auf Produkt- und Gesellschaftsebene ist Bestandteil der Level-2-Ebene der Offenlegungsverordnung. Dieser nächste Schritt war um ein Jahr nach hinten verschoben worden, weil die detaillierten Umsetzungsvorgaben (technische Regulierungsstandards, Regulatory Technical Standards, RTS) noch ausstehen. Statt wie bislang geplant 2022 werden somit erst 2023 die neuen Berichtspflichten in Verkaufsprospekten oder periodischen Berichten greifen. Erst ab dann ist es auch im jährlichen Mifid-Bericht des Fonds verpflichtend, im Annex zu nachhaltigen Anteilen des Portfolios Transparenz zu schaffen.

Insofern ist nicht überraschend, was Kuper prophezeit: „Wenn nicht noch der Starttermin für die Nachhaltigkeitsberatung im Rahmen der Mifid verschoben wird, wird es kaum Produkte geben, die diese neuen Merkmale bereits als vertragliche Zusagen umgesetzt haben.“ Der BVI ist in Gesprächen mit den Vertriebsstellen, ob Selbsteinschätzungen der Anbieter zu den Mifid-Kategorien übergangsweise als Ersatz in der Beratung dienen könnten. Diese Selbstauslegung indes wäre der perfekte Nährboden für Beschwerden oder Klagen wegen falscher Produktempfehlungen, weil damit maximal alles eine Definitionsfrage wäre. Zumal erstmals ab 2023 eine Prüfung der Fonds-Jahresberichte durch die Wirtschaftsprüfer erfolgt. Damit lastet im Zweifelsfall auch eine hohe Verantwortung auf dem Anlageberater, welche Produkte er dem Anleger empfiehlt, wenn die Unsicherheiten im Hintergrund so groß sind.

Unabhängig davon laufen die Vorbereitungen bei Fondsanbietern und Vertrieben auf Hochtouren. Es gilt, die Beratungssysteme anzupassen, das bestehende Anlageuniversum nach den Mifid-Vorgaben zu klassifizieren und zu ergänzen, die Anlagebedingungen anzupassen und die Beratungsdokumentation neu zu etablieren, auch mit Blick auf sich verändernde Nachhaltigkeitspräferenzen.

Neben also noch zu definierenden Standards für die Nachhaltigkeitsberatung macht den Assetmanagern und Anlegern ebenso wie allen anderen Beteiligten im Investmentprozess zu schaffen, dass es bislang nur wenige Daten gibt, um die diversen Aspekte der Nachhaltigkeit bei allen Wertpapieremittenten hinreichend be­werten zu können. „Es gibt ein riesiges Datenloch, wir brauchen unbedingt und dringend verlässliche Daten“, mahnte der Präsident des europäischen Fondsverbands Efama, Naïm Abou-Jaoudé, der hauptberuflich Chef der Fondsgesellschaft Candriam ist, bei einer Veranstaltung seines Verbands. Vor allem brauche es auch globale Standards in der Unternehmensberichterstattung, wie sie der neue Bilanzstandardsetzer ISSB entwickeln soll. Nationale Rahmenwerke würden dagegen zu einer unüberschaubaren Fragmentierung führen.

Eine zentrale Datenbank

Auch Vorstöße wie die EU-weite Informationsplattform „European Single Access Point“ (ESAP) werden daher von den Fondsanbietern begrüßt. Damit soll eine zentrale Datenbank mit Informationen über die Finanzen und die Nachhaltigkeit von Unternehmen aufgebaut werden, die maschinenlesbare Daten von börsennotierten bis hin zu kleineren Firmen, auch von außerhalb der EU, bieten soll. Dieses Register, das die Unternehmen freiwillig beliefern können, soll allerdings erst in den Jahren 2024 bis 2026 entstehen.

Bis dahin werden ab 2023 jedenfalls auch die neuen Berichtspflichten der EU-Unternehmen zu den Nachhaltigkeitsfaktoren in der EU gelten, wovon sich Investoren, Assetmanager sowie Ratingagenturen ein deutliches Mehr an Transparenz erhoffen. Zudem haben alle großen Fondsgesellschaften eigene Kapazitäten in der Nachhaltigkeitsanalyse aufgebaut, wofür die direkten Unternehmenskontakte als Basis dienen.

Künstliche Intelligenz

„Wie sollen dem Anleger ab August Produkte mit einem Mindestanteil an taxonomiekonformen oder nachhaltigen Investments oder unter dem Blickwinkel der PAI-Faktoren angeboten werden, wenn weiterhin jede Menge Daten fehlen, um diese Aspekte der Investitionen zu bewerten?“, beklagt Kuper. Zumal nur die EU-Firmen ab 2023 unter die neuen Berichtspflichten fallen, die viel zahlreicheren Unternehmen aus den anderen Ländern dagegen nicht.

Zudem kämpfen die Fondsgesellschaften aber auch mit der Erfassung, der Verarbeitung, dem Handling und der Konsistenz der Daten. Klar ist, dass rund um diese komplexen Herausforderungen in Zukunft eine Menge an Lösungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz entstehen wird und muss.

Was sich somit immer mehr offenbart: Es ist ein schwerer Geburtsfehler der seit 10. März 2021 geltenden EU-Offenlegungsverordnung, von der Finanzbranche Transparenz zu erwarten über ihre Produkte und ihre Geschäftsstrategie, wenn die Inhalte der Produkte und die grundlegenden Fragen der Nachhaltigkeit, auch im zweiten Jahr nach dem Inkrafttreten, weitestgehend unklar bleiben.

Über Nacht ergrünt

Der unbedarfte Beobachter dagegen könnte durchaus denken, dass die Fondswelt im Frühjahr 2021 quasi über Nacht ergrünt ist. Denn um diesen Zeitpunkt herum kam es zu einer explosionsartigen Vermehrung von Artikel-8- und Artikel-9-Fonds als neue Kategorien der Nachhaltigkeit, so bezeichnet nach den entsprechenden Artikeln in der Offenlegungsverordnung. Ende September gaben Morningstar zufolge 21,7 % der in der EU zum Vertrieb zugelassenen Fonds an, Umwelt- und/oder soziale Aspekte (Artikel 8) zu berücksichtigen. 2,8 % nahmen für sich in Anspruch, nachhaltige Ziele zu verfolgen (Artikel 9). Zusammen machen die beiden Kategorien rund ein Viertel des gesamten Fondsuniversums in der EU aus. Gemessen an den Vermögenswerten war der Anteil beider Fondsgruppen am Fondsmarkt der EU noch größer: fast 37 %. Zusammen verwalten sie Kundengelder in Höhe von 3,32 Bill. Euro. Das Interesse der Anleger wuchs zuletzt deutlich. 57 % der Nettomittelzuflüsse gingen im dritten Quartal in als nachhaltig deklarierte Produkte. Und jeder zweite neu aufgelegte Fonds galt als nachhaltig.

Weltweit erreichte das verwaltete Vermögen Ende September einen Höchststand von 3,9 Bill. Dollar. Rund 7 500 Fonds bezeichnen sich als nachhaltig. Mit einem Anteil von 88 % der nachhaltig verwalteten Vermögenswerte weltweit dominiert Europa das Geschehen. Die USA liegen abgeschlagen auf Platz 2. Ihr Marktanteil beträgt 8,5 %. Das mit Abstand beliebteste Anlagethema ist das Klima.

Morningstar erwartet, dass spätestens Mitte nächsten Jahres die Hälfte der europäischen Fonds nach Artikel 8 oder 9 eingestuft ist. Einige der großen Assetmanager melden schon heute höhere Quoten in ihren Fondspaletten. Bei Robeco sind es 93 %, bei Axa 90 %, bei BNP Paribas 80 %, bei Amundi 75 %. Die DWS will künftig fast die gesamte Palette so kategorisieren. Schroders hatte per Ende 2021 einen Anteil von 70 % angestrebt.

Dabei spekulieren die Anbieter auch darauf, dass Anleger bereit sind, höhere Ausgabeaufschläge und Managementgebühren für das gute Gewissen in Kauf zu nehmen oder auf Rendite zu verzichten. In einer Erhebung von Eurogroup Consulting unter 250 deutschen Bankkunden bejahten dies ohne Wenn und Aber immerhin 11 %, weitere 38 % „unter Umständen“.

Greenwashing-Debatte

Spannend wird aber auch die Frage bleiben, inwieweit auf dem Nährboden der maximalen Ungewissheit beim Thema Nachhaltigkeit noch weitere Greenwashing-Vorwürfe gegen konkrete Anbieter gedeihen werden, wie es der DWS durch ihre Ex-ESG-Chefin Desiree Fixler widerfuhr. „Alle Anbieter müssen sich Sorgen um Greenwashing-Anschuldigungen machen“, räumte Laurent Ramsey, Co-CEO von Pictet Asset Management, bei der schon erwähnten Veranstaltung der Efama ein. DWS-Chef Asoka Wöhrmann sprach bei diesem Anlass davon, dass es hier um „falsche Vorstellungen von Privatanlegern“ gehe, die zu solchen Vorwürfen führen würden. Institutionelle Investoren hätten hierfür ein besseres Verständnis, weil sie tiefere Einblicke in die Prozesse hätten.

Fakt ist indes: Es gibt schon mehrere Studien, etwa aus dem NGO-Bereich, die haarklein Portfolien von nachhaltigen Fonds auseinandernehmen und zeigen, dass nichts anderes drinsteckt als in klassischen Fonds. Fondsanbieter kontern diese Attacken mit dem Hinweis, dass nach den Taxonomie-Vorgaben gerade mal 3 bis 5 % der Unternehmen investierbar wären. Oder auch damit, dass es ein langwieriger und vor allem kostspieliger Prozess sei, die gesamte Wirtschaft in eine grüne Zukunft zu transformieren, den die Fondsgesellschaften finanzieren und begleiten wollen.

Insbesondere, wenn die sozialen Aspekte in der Taxonomie dazukommen, sind Auseinandersetzungen absehbar. „Denn es gibt in Europa und in der Welt extrem unterschiedliche Vorstellungen hierzu“, blickte Valérie Baudson, CEO von Amundi, bei der Efama-Veranstaltung sorgenvoll nach vorn.

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