US-WAHLJAHR 2016

Clinton muss ihren schrumpfenden Vorsprung ins Ziel retten

Trump hofft auf den "Brexit-Effekt" - US-Präsidentschaftswahl für Überraschungen gut - Aussagekraft der Umfragen angezweifelt

Clinton muss ihren schrumpfenden Vorsprung ins Ziel retten

Von Peter De Thier, WashingtonAm Dienstag treffen rund 100 Millionen Amerikaner eine historische Entscheidung: Kommt zum ersten Mal eine Präsidentin ins Weiße Haus? Oder wird es doch ein männlicher Demagoge, der aus seiner populistischen Einstellung keinen Hehl macht?Wählerumfragen signalisieren, dass die Demokratin Hillary Clinton einen knappen Sieg feiern kann. Zuletzt ist ihr Vorsprung jedoch deutlich geschrumpft nach der umstrittenen Erklärung von FBI-Direktor James Comey, dass man die Ermittlungen gegen Clinton im Zusammenhang mit den von ihrem privaten Server geschickten E-Mails wieder aufgenommen hat.Letztlich sind es indes sogenannte Elektoren, also Wahlmänner und Wahlfrauen, die den neuen Präsidenten in geheimer Wahl bestimmen. Und bei einem großen Teil der US-Bundesstaaten lässt sich der Wahlausgang schon relativ klar vorhersagen. 115 Elektorenstimmen (Mehrheit liegt bei über 269) kann Clinton schon etwa aus Kalifornien, New York, Massachusetts oder Washington D.C. für sich als sicher einstufen. Nur in den sogenannten Swing States ist der Ausgang ungewiss. In diesen Bundesstaaten hat keine der beiden großen Parteien eine größere strukturelle Mehrheit.Trump kommt nach jetzigem Stand nur auf maximal 49 Elektoren. Sie stammen aus den Südstaaten wie Alabama, Kentucky, Oklahoma, Arkansas und West Virginia. Werden auch jene Staaten berücksichtigt, in denen sich bereits eine relativ klare Präferenz herauskristallisiert hat, kann der Immobilienunternehmer mit 180 Wahlmännern rechnen. Die beiden Drittkandidaten, der Liberale Gary Johnson und die Grüne Jill Stein, werden zusammen wohl weniger als 10 % der Stimmen auf sich vereinigen. Auf den Wahlausgang werden sie deswegen keinen Einfluss haben, weil ihre Stimmen in etwa gleichen Teilen zu Lasten von Trump und Clinton gehen. Blick auf WahlbeteiligungAber Umfragen und Abschätzungen können täuschen. “Trump kann noch gewinnen. Ich setze absolut nichts als selbstverständlich voraus und brauche jede einzige Stimme”, appelliert Clinton deshalb bei jedem Auftritt in den Battleground oder Swing States an ihre Anhänger. Um keinen Preis sollten sie aus Siegessicherheit am 8. November einfach zu Hause bleiben.Demoskopen zufolge wäre eine geringe Wahlbeteiligung erklärter demokratischer Wähler aus der Siegesgewissheit heraus die letzte Chance für den Republikaner Trump. Er hofft, dass er eine ähnliche Überraschung wie beim Brexit-Votum in Großbritannien hinbekommen kann. Womöglich unterschätzen Demoskopen auch seine Wählerschaft, weil in Umfragen nicht jeder seine Sympathie für die reißerischen Slogans und Schlachtrufe bekundet.Der prominente Jurist Alan Dershowitz, der einen Bestseller über die Dysfunktionalität des US-Wahlsystems geschrieben hat, teilt diese Sorge: Bei populistischen Kampagnen werde die Zahl der Anhänger, die tatsächlich wählen gehen, typischerweise unterschätzt. “Allein deswegen glaube ich, dass Hillary Clintons Vorsprung noch geringer ist, als es sich in den Umfragen widerspiegelt, und Trump auf jeden Fall noch gewinnen könnte.” Ein weiterer Trumpf, auf den Trump setzt, ist die Unbeliebtheit der staatlichen (Pflicht-)Krankenversicherung Obamacare, die Clinton unterstützt. Damit könnte er punkten, weil kürzlich bekannt wurde, dass die Prämien 2017 im Schnitt um 22 % steigen werden. “Das ist für jeden Privatbürger unzumutbar und könnte zahlreiche Klein- und Mittelbetriebe, die einen Arbeitgeberanteil zu tragen haben, in den Konkurs stürzen”, argumentiert Trumps Wahlkampfmanagerin Kellyann Conway. Auch zieht Trump gern gegen die Ausgabenpolitik Obamas zu Felde, unter dem die Staatsschulden auf den Rekordstand von 19 Bill. Dollar gestiegen sind. Ein Clinton-Sieg käme “Obamas dritter Amtsperiode” gleich, wettert er. Steuern würden erhöht, und die Staatsfinanzen würden trotzdem aus dem Ruder laufen, prophezeit er. E-Mail-AffäreUnd eine weitere Sorge treibt Clintons Wahlkampfteam um: das Risiko einer negativen Überraschung quasi in letzter Sekunde, auf die man nicht mehr rechtzeitig reagieren kann. Alles andere als hilfreich war als solche etwa die Ankündigung von FBI-Chef Comey Ende vergangener Woche, die Ermittlungen gegen Clinton wieder aufzunehmen. Im Mittelpunkt stehen E-Mails von Clintons Wahlkampfmanagerin Huma Abedin. Sie wurden im Zuge des Verfahrens gegen ihren Mann, den wegen eines Sexting-Skandals in Ungnade gefallenen ehemaligen Kongressabgeordneten Anthony Weiner, entdeckt. Obwohl völlig unklar ist, ob die E-Mails in Zusammenhang stehen zur Präsidentschaftskandidatin, werfen sie doch einen Schatten über ihre Kampagne und werden natürlich von Trump ausgeschlachtet.Um sicherzustellen, dass solche Restrisiken nicht ins Gewicht fallen und schon gar nicht den Ausschlag geben, bekommt Clinton inzwischen verstärkt Unterstützung von bekannten Persönlichkeiten. Denn sie muss ihre derzeitige Führung in den Swing States weiter ausbauen, um einen gewissen Puffer zu haben. In Ohio etwa, wo in jeder Wahl seit 1964 der künftige Präsident gewann, hat Trump sogar die Nase knapp vorn. Bei Stahlarbeitern sowie in anderen Industrien, in denen es zu Massenentlassungen kam, stoßen seine Kampfansage gegen den freien Welthandel und seine Ausländerfeindlichkeit auf positives Echo.Aus diesem Grunde bindet Clinton nun prominente und vor allem beliebte Fürsprecher ein, von denen Trump selbst nur wenige hat. Von Vizepräsident Joe Biden über zahlreiche Popstars bis hin zu First Lady Michelle und schließlich Präsident Obama selbst. Sie werden in den Battleground States bis zum Wahltag für Clinton und ihre Botschaft von Integration, Gleichberechtigung, sozialer sowie wirtschaftlicher Gerechtigkeit und für ihre Außenpolitik, die auf Diplomatie anstelle von Konfrontation setzt, die Werbetrommel rühren. Marken-Werbung?Etwas irritierend war daher, dass der Republikaner zuletzt lieber an der Eröffnung seines neuen Hotels wenige Straßenblocks vom Weißen Haus entfernt teilgenommen hat, als weiter zu kämpfen. Das bekräftigte Kritiker in ihrer Überzeugung, dass Trumps ganze Kampagne wohl vorrangig nur dazu dient, die kommerzielle “Marke Trump” bekannter und damit wertvoller zu machen. Auch ließ Trump mitteilen, dass er sämtliche Großveranstaltungen zum Sammeln von Wahlspenden einstellen würde. Ein Zeichen von Kapitulation? Kurz danach aber die Kehrtwende: “Ich werde wenn notwendig zig Millionen Dollar meines eigenen Geldes ausgeben, um zu gewinnen.” Typisch Donald Trump. Unberechenbar, immer für eine Überraschung gut, mittlerweile ebenfalls wieder in sämtlichen Swing States unterwegs und somit ein Garant dafür, dass vor dem 8. November nichts entschieden sein wird.