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Die deutsche Wachstumsschwäche – Ursachen und Hoffnung

Die deutsche Wirtschaft hat mit großen strukturellen Herausforderungen zu kämpfen. Doch es gibt Gründe für Optimismus, schreibt Felix Hüfner, Chefvolkswirt Deutschland der UBS Investment Bank, in einem Gastkommentar.

Die deutsche Wachstumsschwäche – Ursachen und Hoffnung

Die deutsche Wachstumsschwäche – Ursachen und Hoffnung

In Gesprächen mit internationalen Investoren begegnet uns seit Monaten eine immer wiederkehrende Frage: Was ist mit der deutschen Wirtschaft los? Die anhaltende Stagnation der deutschen Konjunktur wird als Hauptgrund für das schleppende europäische Wachstum gesehen. Viele befürchten, dass das deutsche Konjunkturtief nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, sondern ein längerfristiger Trend aufgrund struktureller Schwächen sein wird. Manche fühlen sich zurückversetzt in die Situation Anfang der 2000er Jahre, als Deutschland oftmals als „kranker Mann Europas“ bezeichnet wurde.

Was sind die Fakten, welche Diagnose erklärt die Wachstumsschwäche, und gibt es auch Gründe für mehr Optimismus?

Zunächst zu den Fakten der deutschen Wachstumsschwäche. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist seit Ende 2019 nur um 0,1% gewachsen, hat also de facto stagniert über die vergangenen vier Jahre. Eine solche anhaltende Schwächephase gab es zuletzt vor 20 Jahren. Zudem war das deutsche Wachstum in den vergangenen vier Jahren wesentlich schwächer als das in Italien, Frankreich, Spanien und der Eurozone insgesamt. Diese wuchsen im selben Zeitraum zwischen 1,9% und 4,2%. Auch diese Divergenz gab es zuletzt Anfang der 2000er Jahre. Zerlegt man die letzten vier Jahre in die Covid-Krise und die Energiekrise, so zeigt sich, dass Deutschland in beiden Perioden der Eurozone hinterherhinkte. Die deutsche Schwäche ist also nicht nur Ausdruck der Energiekrise.

Der Gastautor Felix Hüfner ist Chefvolkswirt Deutschland, UBS Investment Bank.

Am meisten überrascht der Blick auf die Sektoren. Die Schwäche der deutschen Wirtschaft kam nicht nur aus der Industrie – das Wachstum in Frankreich war hier sogar noch niedriger. Vielmehr war insbesondere der deutsche Dienstleistungssektor schwächer als in Italien, Frankreich, Spanien und der Eurozone. Das Narrativ, dass die deutschen Wachstumsprobleme nur auf die Industrie zurückzuführen sind, stimmt somit nicht.

Eine solch lang anhaltende und breit gefächerte Wirtschaftsschwäche legt den Schluss nahe, dass sich das deutsche Potenzialwachstum, also die langfristig mögliche Wachstumsrate bei normalem Auslastungsgrad, abgeschwächt hat. In der Tat zeigen Schätzungen der OECD, dass diese Rate in Deutschland über die letzten Jahre um rund einen halben Prozentpunkt gefallen ist. Mit nun nur noch knapp unter 1% ist dies der schwächste Wert unter den großen Ländern in der Eurozone. Der Sachverständigenrat rechnet sogar nur noch mit 0,5%.

Alternde Gesellschaft

Was sind die Gründe für diesen Rückgang? Der wichtigste Faktor ist die Alterung der deutschen Bevölkerung. Laut Prognosen der Vereinten Nationen sinkt die deutsche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter während der 2020er um durchschnittlich 400.000 pro Jahr, nachdem sie in der vergangenen Dekade noch um 19.000 pro Jahr gestiegen ist. Zum Vergleich: In Frankreich beträgt der Rückgang in dieser Dekade lediglich 50.000 pro Jahr. Allein dieser Faktor kostet uns 0,5 Prozentpunkte an potenziellem Wirtschaftswachstum pro Jahr.

Dieser Befund passt zum weitverbreiteten Fachkräftemangel – auch dieser ist in Deutschland deutlich ausgeprägter als anderswo. Neben der Alterung der Gesellschaft gibt es jedoch noch zwei weitere strukturelle Gegenwinde speziell für die Industrie. Erstens bleibt Energie in Deutschland teuer: Die Marktpreise für Gas sind etwa fünfmal höher als in den USA. Eine Folge: Die Produktion in der energieintensiven Industrie liegt 20% unter ihrem Stand von Ende 2021, während im Rest der Industrie der Rückgang nur 5% beträgt.

Zweitens ist insbesondere die Autoindustrie in hohem Maße von der Entwicklung in China abhängig und leidet nun an dem nachlassenden chinesischen Wirtschaftswachstum. Automobile haben sowohl den höchsten Anteil an den deutschen Güterexporten als auch den höchsten Anteil an Exporten nach China. Der Anteil der Autoindustrie an der deutschen Wertschöpfung ist seit 2015 um 0,8 Prozentpunkte auf 3,9% gesunken. Die Beschäftigung in der Branche ist um knapp 5% gefallen, mehr als in der Gesamtindustrie.

Strukturelle Probleme

Die strukturellen Gegenwinde und Herausforderungen sind also groß. Aber es gibt unseres Erachtens durchaus auch Gründe für Optimismus. Erstens erleben selbst strukturell schwach wachsende Länder zyklische Aufschwünge. Selbst wenn man annimmt, dass die deutsche Trendwachstumsrate nur knapp unter 1% liegt, lässt sich die derzeitige Stagnation nicht nur mit strukturellen Faktoren erklären.

Anders ausgedrückt: Ein zyklischer Aufschwung ist möglich und sogar wahrscheinlich, wenn die globale Nachfrage sich normalisiert und die EZB die Leitzinsen wieder senkt, womit im Laufe dieses Jahres zu rechnen ist. Zudem sorgen die starken Lohnerhöhungen für Konsumnachfrage – insbesondere weil der Arbeitsmarkt bislang erstaunlich robust ist (dies ist eine weitere Folge der Alterung). Diese Faktoren sollten das deutsche Wachstum von derzeit null wieder bis auf knapp unter 1% im nächsten Jahr anheben. Die jüngsten zaghaften Anstiege des Ifo-Index mögen ein erster Hinweis auf eine solche Erholung sein.

Zweitens sollte man trotz aller strukturellen Gegenwinde für die deutsche Industrie nicht deren Anpassungsfähigkeit unterschätzen. So ist etwa die Energieintensität in der Industrie bereits seit Jahren am Fallen – eine klare Reaktion auf höhere Preise. Auch in der Energiekrise wurde mehr Gas eingespart, als man im Vorhinein gehofft hatte. Und nicht zuletzt hat die deutsche Industrie bereits vor Einführung des Euro häufig auf die starke D-Mark reagieren müssen.

Stimmung zu pessimistisch

Drittens sind die deutschen Staatsfinanzen in wesentlich besserer Verfassung als in anderen Ländern. Der Anteil der Staatsschulden am Bruttoinlandsprodukt liegt mit rund 65% fast auf demselben Niveau wie 2007 – eine bessere Entwicklung als in fast jeder anderen entwickelten Volkswirtschaft, mit Ausnahme der Schweiz und einiger skandinavischer Länder. Mit dieser günstigen Ausgangssituation könnte man nun Standortfaktoren verbessern, um die Investitionsanreize in Deutschland zu stärken. Dazu zählten eine Anhebung der international niedrigen staatlichen Investitionen oder etwa eine Senkung der im internationalen Vergleich hohen Unternehmenssteuersätze.

Ohne die Aussichten beschönigen zu wollen, scheint uns doch die gegenwärtige Stimmung zu pessimistisch zu sein.

Felix Hüfner

Chefvolkswirt Deutschland, UBS Investment Bank