IM INTERVIEW: CLAUDIO BORIO

"Die Erwartungen an die Zentralbanken sind zu groß"

Der Top-Ökonom der BIZ über die Lage der Weltwirtschaft, den Kursschwenk der Notenbanken, neue geldpolitische Strategien und den Klimawandel

"Die Erwartungen an die Zentralbanken sind zu groß"

Herr Borio, wie besorgt sind Sie aktuell um die Weltwirtschaft? Sehen Sie das Risiko einer globalen Rezession, oder erleben wir eine Stabilisierung, an die sich eine Erholung anschließen könnte?Wir erleben gerade eine Art Tauziehen zwischen der Industrie, die stark unter den globalen Handelsspannungen leidet, und dem Dienstleistungsbereich, der sich weiter ganz gut hält. Die Investitionen sind weltweit eher schwach, aber der Konsum ist recht stark. Der Konsum profitiert auch von der vielerorts weiter guten Arbeitsmarktlage. Und welcher Sektor wird dieses Tauziehen gewinnen?Historisch betrachtet gibt es kein klares Muster, dass der Industriesektor den Dienstleistungsbereich mitzieht – genauso wenig wie andersherum. Aktuell gibt es einige Signale, dass die Industrieschwäche zu Ansteckungen bei den Dienstleistungen führt. Zugleich hält sich der Dienstleistungssektor aber recht gut. Es ist sehr schwer, da eine Vorhersage zu treffen. Fakt ist aber auch, dass der Dienstleistungsbereich weltweit wesentlich größer ist als das verarbeitende Gewerbe, auch wenn das in einigen Ländern wie Deutschland weniger stark ausgeprägt ist. Sie sind also eher zuversichtlich und befürchten keine Rezession?Wir machen bei der BIZ keine Prognosen, und Einschätzungen sind aktuell sehr unsicher. Was wir aber nachgewiesen haben, ist, dass Indikatoren für den Finanzzyklus ein besserer Gradmesser für das Rezessionsrisiko sind als etwa die Zinsstrukturkurve. Wenn man sich nun diese Indikatoren weltweit anschaut, kommt man zu dem Schluss: Eine Rezession zeichnet sich so bald nicht ab. Die einzige große Volkswirtschaft, in der der Finanzzyklus seinen Höhepunkt erreicht oder überschritten hat, ist China. Aber die Verantwortlichen dort wissen um die damit verbundenen Risiken, gehen die Probleme an und haben noch größeren Spielraum zum Handeln als andernorts. Die Zentralbanken weltweit, allen voran die US-Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank (EZB), haben 2019 auf die globale Wachstumsabschwächung mit einer kompletten Kehrtwende reagiert – von einer vorsichtigen Normalisierung der Geldpolitik hin zu einer weiteren deutlichen Lockerung. War das angemessen oder eine Überreaktion?Die Zentralbanken haben sich für einen Risikomanagementansatz entschieden. Die Indikatoren sind nicht absolut sicher. Sie haben vergangene Rezessionen manchmal nicht vorhergesagt. Wir sollten sehr vorsichtig bleiben. Dieses Risikomanagement beinhaltet offenkundig, geldpolitisch lieber zu früh zu agieren und zu viel zu tun als zu spät zu handeln und zu wenig zu tun. Das birgt aber Risiken, vor denen auch die BIZ stets gewarnt hat.Wenn man sehr besorgt ist, dass sich die Inflationserwartungen aus der Verankerung im Bereich der Notenbankziele lösen, und wenn man sehr besorgt ist, dass die Zentralbank an die Zinsuntergrenze stößt, kann dies schnelles und aggressives Handeln rechtfertigen. Das ist genau das, was viele Notenbanken tun. Zugleich aber gibt es aber auch längerfristige Aspekte. Eine sehr lockere Geldpolitik erhöht die Risikobereitschaft. Sehr lange sehr niedrige Zinsen können Banken und Finanzunternehmen schwächen. Sie können auch zu Kapitalfehlallokationen führen und den Aufbau von Schulden begünstigen. Diese Risiken müssen mit ins Kalkül gezogen werden, wie wir in unserem letzten Jahresbericht geschrieben haben. Die Zentralbanker sind sich dieser Risiken sehr bewusst. Ist das so? Haben Sie auch den Eindruck, dass die Zentralbanken mehr kurzfristig als langfristig orientiert sind?Vor dem Hintergrund der Preisstabilitätsmandate der Zentralbanken ist die Geldpolitik stark von Sorgen um die Inflationserwartungen und die Zinsuntergrenze getrieben. Lassen Sie mich aber noch einen Punkt hervorheben: In einigen Kreisen gibt es die Ansicht, dass Zentralbanken allmächtig sind. Insbesondere gibt es die Einschätzung, die Geldpolitik könnte der Motor für nachhaltiges Wachstum sein. Das ist sehr gefährlich. Zentralbanken sind nicht allmächtig, und die Geldpolitik kann nicht für nachhaltiges Wachstum sorgen. Deswegen braucht es einen besseren Politikmix. Die Zentralbanken haben viel zu lange allein die Last getragen, die globale wirtschaftliche Erholung sicherzustellen. Hinzu kommt: Der Handlungsspielraum der Geldpolitik ist heute viel kleiner als noch vor der Krise. Haben die Zentralbanken ihre Grenzen erreicht?Von länderspezifischen Unterschieden abgesehen, engt sich der Spielraum überall zunehmend ein. Angesichts dieser Tatsache haben Zentralbanken und andere ihre Rufe nach einer aktiveren Fiskalpolitik intensiviert. Zu Recht?Die Geldpolitik kann nicht alles allein schaffen, und ihr Spielraum ist zunehmend eingeschränkt. Da ist es normal, dass die Fiskalpolitik eine helfende Hand reichen sollte. Entscheidend ist aber, dass das klug erfolgt. Die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen darf nicht in Zweifel gezogen werden. Das heißt auch: Nicht alle Länder haben Spielraum. Zudem geht es um eine wachstumsfreundliche Fiskalpolitik. Gut gewählte und ausgeführte Investitionen sind zum Beispiel generell Konsumausgaben vorzuziehen. Es geht nicht um Fiskalpolitik per se, sondern um kluge Fiskalpolitik. Einige Experten, auch Ex-Zentralbanker, plädieren für eine stärkere Kooperation oder gar Koordination von Geld- und Fiskalpolitik. Was halten Sie davon?Geld- und Fiskalpolitik haben beide ihre eigenen Mandate und ihre eigene Rolle zu spielen, und natürlich ist es gut, wenn beide in die gleiche Richtung marschieren, also mit dem Ziel, die Wirtschaft anzukurbeln und die Inflation zu erhöhen, falls diese zu niedrig ist. Die Grenzen zwischen Geld- und Fiskalpolitik dürfen aber nicht verschwinden. Ich halte deshalb auch nichts von Vorschlägen wie “Helikoptergeld” oder der Monetisierung staatlicher Defizite. Am Ende droht sonst das Risiko einer fiskalischen Dominanz, bei der die Staatsfinanzen den Handlungsspielraum der Zentralbanken stark einschränken, eine große Rolle zu spielen. Bei aller Diskussion über die Fiskalpolitik – wäre es nicht auch angebracht, die Strukturpolitik stärker in den Fokus zu rücken?Absolut! Die Strukturpolitik ist langfristig betrachtet der einzige Motor für nachhaltiges Wachstum. Deswegen ist die Entwicklung seit der Weltfinanzkrise auch so enttäuschend. In der Krise, mit dem Rücken zur Wand stehend, gingen viele Regierungen Strukturreformen an. OECD-Analysen zeigen aber, dass dies seit 2011 de facto zum Erliegen gekommen ist. Da braucht es dringend wieder ein Umdenken. Kommen wir wieder zur Geldpolitik zurück. Die Zentralbanken begründen ihren Kurs auch damit, dass die Inflation unter dem weit verbreiteten 2-Prozent-Ziel liegt. Warum ist das so?Auf diese Frage weiß niemand wirklich die Antwort. Einen großen Einfluss haben aus unserer Sicht die Globalisierung und der technologische Fortschritt. Die Globalisierung hat beispielsweise die Preissetzungsmacht der Unternehmen und die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer geschwächt. Der technologische Fortschritt hat dazu geführt, dass Arbeit durch Kapital ersetzt worden ist. Das alles führt zu einem anhaltenden Abwärtsdruck auf die Inflation. Vor der Krise hat das wie ein Rückenwind gewirkt. Die Geldpolitik konnte dadurch expansiver sein, als sie es sonst gewesen wäre. Nach der Krise ist das aber zu einem Gegenwind geworden. Die Inflation bewegt sich nicht generell so auf die Zielwerte zu, wie die Zentralbanken es gerne möchten. Einige Kritiker argumentieren, es gäbe gar keinen Zusammenhang mehr zwischen geldpolitischer Expansion und der Inflation.Es gibt ganz sicher eine Beziehung. Die Frage ist aber, wie stark sie ist. Die Phillips-Kurve etwa . . . . . . die Arbeitsmarkt sowie Auslastung und Preise sowie Inflation in eine direkte Beziehung setzt . . .. . . existiert sicher weiter, auch wenn sie sich verändert hat. Es muss sicher eine Beziehung geben zwischen der Auslastung der Ressourcen, wie der Arbeit, und der Inflation. Wann genau dieser Punkt klarer sichtbar sein wird, ist schwer zu sagen. Entscheidend ist aber auch, auf die globale Ebene zu schauen. Die Inflation wird immer stärker von globalen Kräften getrieben und immer weniger von länderspezifischen, vor allem wenn wir die Rolle der Technologie berücksichtigen. Die Inflation ist aber nicht “tot”, wie einige Auguren meinen?Die Inflation mag schlafen, es wäre aber ein großer Fehler, sie für tot zu erklären. Jeder sollte sich der Gefahr bewusst sein, dass es künftig einen Anstieg der Inflation geben kann. Und dass dieser unerwartet stark sein kann. Das langfristige Bild ist aber: Wir leben eher in einer disinflationären Welt, nicht in einer inflationären. Im Kampf gegen die Wirtschaftsschwäche und die zu niedrige Inflation haben Zentralbanken zu beispiellosen Maßnahmen wie breiten Anleihekäufen (Quantitative Easing, QE) oder Negativzinsen gegriffen. Wie lautet Ihr Fazit dieser Maßnahmen?Diese Instrumente können die wirtschaftliche Aktivität ankurbeln. Je länger diese Instrumente aber im Einsatz sind und je weiter man damit geht, desto mehr kann sich das Verhältnis von Nutzen und Kosten verschlechtern. In diesem Fall nimmt der Nutzen ab, und die Kollateralschäden nehmen zu. Ist bereits der Punkt erreicht, an dem die Risiken der lockeren Geldpolitik den Nutzen überwiegen?Das muss jede Zentralbank für sich entscheiden. Einige Kritiker argumentieren gar, Negativzinsen könnten das Fundament des Finanzsystems untergraben. Teilen Sie diese Sorge?Wie bereits erwähnt, sie schwächen das Finanzsystem. Darüber hinaus hängen ihre Effekte auch von psychologischen Faktoren ab. Wie reagiert die Öffentlichkeit auf negative Zinsen? Gibt sie mehr aus oder spart sie mehr fürs Alter? Findet sie die außergewöhnliche Situation alarmierend? Das kann von Land zu Land und von Zeit zu Zeit unterschiedlich sein. Dies gilt es für die Zentralbanken zu beobachten. Wenn ich sage, dass sich der Spielraum für die Geldpolitik einengt, gilt das nicht im technischen Sinne. Überspitzt formuliert kann eine Zentralbank – rein technisch betrachtet – alle Vermögenswerte einer Volkswirtschaft aufkaufen. Die Frage ist aber, was das für langfristige Konsequenzen hat und wie viel es noch bringt, die Geldpolitik immer weiter zu lockern. Die Geldpolitik hat Grenzen. Wie lange können Zentralbanken an Null- und Negativzinsen und QE festhalten, bevor sie selbst zum Stabilitätsrisiko werden?Wie gesagt, niedrige Zinsen verleiten zur Übernahme höherer Risiken. Die Indikatoren für den Finanzzyklus schlagen aber noch nicht Alarm. Aber natürlich gibt es Schwachstellen, etwa im Unternehmenssektor, auf dem Markt für gehebelte Kredite oder wegen der hohen globalen Verschuldung. Das alles kann einen Abschwung verstärken. Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt vor einer “Blase” an den Anleihemärkten. Tatsächlich liegt bei Staats- und Firmenanleihen im Wert von 17 Bill. Dollar die Rendite unter 0 %. Wie sehr besorgt Sie das?Es ist schwierig, über “Blasen” an den Anleihemärkten zu sprechen. Wenn Investoren aber Anleihen nur kaufen, weil sie davon ausgehen, diese an die Zentralbanken verkaufen zu können, bevor es zu spät ist, wäre das sicher keine kluge Strategie, und es hätte Elemente einer “Blase”. Wichtiger ist aus meiner Sicht aber zu analysieren, was die langfristigen Folgen langanhaltend niedriger Zinsen sind. Sie befürchten also keine rasche Trendumkehr – kein Platzen?Natürlich kann es irgendwann zu einer plötzlichen Gegenbewegung kommen. Viele Investoren haben ihr Portfolio unter der Annahme ausgerichtet, dass die Zinsen für sehr lange Zeit sehr niedrig bleiben. Wenn die Inflation irgendwann stärker anzieht und die Zentralbanken reagieren, kann es bei vielen Vermögenspreisen zu starken, auch turbulenten Bewegungen kommen. Droht gar eine neue Finanzkrise in den nächsten Jahren?Ich sehe keine Gefahr einer Finanzkrise in den nächsten Jahren. Im Bereich der Regulierung wurde viel getan. Das heißt aber nicht, dass es nicht Phasen mit Stress im Finanzsystem geben kann. Das gilt vor allem für Länder, in denen sich der Finanzzyklus gedreht hat und/oder das Bankensystem nicht stark genug ist. Eine Finanzkrise wie in den Jahren 2008 und 2009 ist aber zum Glück sehr selten. Wenn es um Risiken im Finanzsystem geht, verweisen die Zentralbanken auf die makroprudenzielle Aufsicht. Machen sie es sich damit nicht etwas zu einfach?Auch da ist ein ausgewogener Politikmix nötig. In der BIZ plädieren wir für einen “Rahmen für die Stabilität der Makrofinanzen”. Wir können nicht alle Last auf die Geldpolitik abladen, aber auch nicht alle Verantwortung auf die makroprudenzielle Politik schieben. Die makroprudenzielle Politik kann es allein nicht schaffen. Die Geldpolitik muss die Finanzstabilität stärker in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Damit sind wir mittendrin in der Diskussion über eine Überprüfung der geldpolitischen Rahmenwerke. Die Fed stellt ihr Tun aktuell auf den Prüfstand, und die EZB mit Neu-Präsidentin Christine Lagarde dürfte bald folgen. Halten Sie das für richtig?Ja, es ist die richtige Zeit für eine solche Überprüfung. Generell sollte sie, falls angegangen, von einer 360-Grad-Perspektive aus erfolgen. Lassen Sie uns mit den Mandaten beginnen. Viele Zentralbanken sind primär auf Preisstabilität verpflichtet. Ist das noch zeitgemäß?Was das Mandat betrifft, kann es sehr gefährlich sein, das zur Diskussion zu stellen. Selbst wenn eine Zentralbank anfänglich einen überlegten und sinnvollen Vorschlag für eine Änderung haben sollte, wüsste man nie, was am Ende des politischen Prozesses herauskommt. Aus meiner Sicht ist das formale Mandat vielfach auch weniger entscheidend als der konzeptionelle Rahmen, den eine Zentralbank verwendet, um zu verstehen, wie eine Wirtschaft funktioniert. Was meinen Sie genau?Nehmen Sie das Beispiel der Finanzstabilität. Selbst wenn das Mandat der Zentralbank auf Preisstabilität lautet, wird sie Finanzstabilität berücksichtigen insoweit, als sie denkt, dass diese die makroökonomische Stabilität und Preisstabilität mit beeinflusst. Je größer dieser Einfluss, desto größer das Gewicht auf dieser Erwägung. Die Evidenz jedenfalls legt nahe, dass die finanziellen Boom-Bust-Zyklen langfristig sehr schädliche Folgen für das nachhaltige Wachstum haben. Mit Blick auf das Inflationsziel, das weltweit vielfach bei 2 % liegt, plädieren Sie für mehr Flexibilität. Was heißt das? Wären Sie für ein Toleranzband für die Inflation anstelle eines solchen Punktziels?Ein solches Toleranzband hat Vor- und Nachteile. Die Flexibilität kann aber auf viele Weisen erreicht werden. Das Wichtigste ist aus meiner Sicht, beim geldpolitischen Horizont flexibel zu sein, also bei dem Zeitraum, innerhalb dessen das Inflationsziel erreicht werden soll. Wenn die Inflation unterhalb des Ziels liegt und man denkt, dass es dafür gute, positive Gründe gibt, dann kann man das für eine gewisse Zeit akzeptieren und muss nicht unter allen Umständen und mit allen Mitteln gegensteuern. Die Abweichung der Inflation vom Ziel ist kein ausreichender Anhaltspunkt für die Geldpolitik. Entscheidend ist, was diese Abweichung verursacht, sowie der weitere wirtschaftliche Kontext. Die Höhe des Inflationsziels ist dann also auch weniger entscheidend? Einige Experten plädieren für eine Absenkung des 2-Prozent-Ziels, andere für eine Erhöhung.Man kann über verschiedene Zahlen diskutieren, und das kann sich von Land zu Land unterscheiden. Eines ist aber für mich unbestritten: Es ist gut und wichtig, ein vergleichsweise niedriges Ziel zu haben. Es ist gut, Preisstabilität zu haben. Sprechen die globalen disinflationären Trends für eine Absenkung des 2-Prozent-Ziels?Wenn Länder ihre Ziele senken wollen, können sie das tun, und einige haben es in der Tat getan. Aber noch einmal: Entscheidend ist, ausreichend Flexibilität zu haben. Wichtig ist aber auch noch etwas: Man muss mit der Vorstellung aufräumen, dass Zentralbanken die Inflation feinsteuern können. Die Erfahrung zeigt, dass eine Feinsteuerung der Inflation nicht möglich ist, nicht zuletzt, wenn die Inflation so niedrig ist. Sehen Sie eine Gefahr, dass die Ära unabhängiger Zentralbanken zu Ende gehen könnte – angesichts der Kritik aus der Politik oder der Forderungen nach mehr Kooperation mit der Fiskalpolitik?Die Tatsache, dass es Spannungen gibt, sehe ich aktuell weniger als Gefahr für die Unabhängigkeit als vielmehr als Beweis, dass diese Unabhängigkeit funktioniert. Aber natürlich ist die Unabhängigkeit keine Selbstverständlichkeit. Sie muss immer wieder verdient werden, um Vertrauen und Legitimität in den Augen der Öffentlichkeit zu bewahren. Aus meiner Sicht gibt es keinen Zweifel, wie wichtig diese Unabhängigkeit ist. Um sie zu verteidigen, muss man die wachsende Lücke angehen zwischen dem, was Zentralbanken liefern sollen, und dem, was sie tatsächlich liefern können. Diese Erwartungslücke erfüllt mich mit großer Sorge. Die an die Zentralbanken gerichteten Erwartungen sind einfach viel zu groß. Droht sich diese “Erwartungslücke” nun nicht noch zu vergrößern, wenn Zentralbanken sich als wichtigen Akteur und die Geldpolitik als Instrument im Kampf gegen den Klimawandel bezeichnen? Nicht zuletzt Neu-EZB-Präsidentin Lagarde scheint stark in diese Richtung zu marschieren.Die Geldpolitik hat ein klares Mandat. Zentralbanken tun das, was sie für das Beste halten, um dieses Mandat zu erfüllen. Wenn sie im Zuge der Geldpolitik beispielsweise bereits private Wertpapiere kaufen, kaufen sie am Ende vielleicht verstärkt grüne Anleihen. Hierbei wäre es hilfreich, klarere Standards dafür zu haben, was grün ist und was nicht. Der Kampf gegen den Klimawandel ist in erster Linie Aufgabe der Politik. Sie befürchten also keine weitere Überforderung der Geldpolitik mit neuen Aufgaben wie dem Umweltschutz?Das Entscheidende ist das Mandat. Das Mandat bleibt die Richtschnur. Ein anderes Thema, das die Zentralbanken aktuell stark umtreibt, ist die geplante Facebook-Digitalwährung Libra. Wie groß schätzen Sie die Risiken von Libra ein?Positiv an Libra ist sicher, dass damit das Thema der großen Kosten grenzüberschreitender Transaktionen endlich die Aufmerksamkeit erfährt, die es verdient. Es gilt, die bestehenden Zahlungs- und Abwicklungssysteme zu verbessern und auf den neuesten Stand zu bringen. Aber globale digitale Währungen bergen natürlich Risiken für die Finanzstabilität und können Folgen für die Geldpolitik haben. Der richtige Ansatz besteht darin, auf der existierenden Zahlungsinfrastruktur aufzubauen, mit den Zentralbanken als Kern. Die Zentralbanken müssen ihrer Verantwortung gerecht werden, und sie haben bereits damit begonnen, dies zu tun. Mit ihrem neuen Innovationszentrum spielt die BIZ dabei eine aktive Rolle. Kann Libra gar das staatliche Geldmonopol bedrohen?Die Vorstellung erscheint mir sehr unrealistisch, mehr wie Science Fiction. Entscheidend für das Vertrauen der Menschen in Geld ist doch, wer dieses Vertrauen absichert. Historisch betrachtet haben private Währungen keine überzeugende Performance abgeliefert. Das Interview führte Mark Schrörs.