LEITARTIKEL

Haushaltsdisziplin ade

Die wachsende Zahl von Flüchtlingen hat eine seltsame Wirkung auf die Seelenverfassung von Politikern in Deutschland und in Europa. Die unerwarteten Ausgaben lassen Dämme brechen: Der noch junge Wille zur Konsolidierung der Staatsfinanzen schwindet...

Haushaltsdisziplin ade

Die wachsende Zahl von Flüchtlingen hat eine seltsame Wirkung auf die Seelenverfassung von Politikern in Deutschland und in Europa. Die unerwarteten Ausgaben lassen Dämme brechen: Der noch junge Wille zur Konsolidierung der Staatsfinanzen schwindet zusehends. Allen voran EU-Parlamentspräsident Martin Schulz verlangte in diesen Tagen, unter dem Druck der zusätzlichen Finanzlasten die Schuldenregeln in Europa zu lockern. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kämpft zwar noch offiziell um die schwarze Null im Bundeshaushalt, hat aber sein bisheriges Credo relativiert. “Oberste Priorität” hat nach den Worten des Ministers die “Bewältigung der Aufgaben in der Flüchtlingskrise”. Diese soll “möglichst ohne neue Schulden” geschehen. Will heißen – schön, wenn es gelingt, aber nicht so tragisch, wenn nicht.Tatsache ist, dass die finanziellen Auswirkungen des Zustroms von Asylsuchenden nach Europa und speziell nach Deutschland noch nicht vorherzusagen sind. Die Ausgleichszahlungen, die Bund und Länder verabredet haben, fußen auf der Annahme, dass in diesem Jahr hierzulande 800 000 Flüchtlinge zuwandern. Wird deren Zahl höher – jüngste Meldungen deuten auf 1,5 Millionen Menschen hin – stimmt diese Rechnung nicht mehr. Der Bund wird den Ländern dann mehr Mittel zugunsten der Kommunen überlassen müssen, obwohl die Länderfinanzen sich durch die sprudelnden Steuereinnahmen ähnlich gut darstellen wie die des Bundes.Weitere politische Bestrebungen gehen dahin, den Flüchtlingsstrom an der Quelle zu stoppen: durch kluge Außen- und Entwicklungspolitik, so dass die Gründe für die Menschen schwinden, ihr Heimatland zu verlassen. Die Sicherung der Außengrenzen Europas ist eine weitere Abwehrmaßnahme. Diese Operationen sind ebenfalls mit ungewissen Kosten verbunden. Schließlich sind durch den Flüchtlingszustrom durchaus auch positive Effekte für die deutsche Volkswirtschaft zu erwarten. Ökonomen schätzen den Wachstumseffekt hierzulande auf 0,2 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts bei einem Zustrom von 800 000 Flüchtlingen im Jahr. Die Asylsuchenden sind auch Konsumenten. Ihre Unterbringung erfordert Investitionen. Als neue Arbeitskräfte können sie zu mehr Wachstum beitragen – Sprachkenntnisse vorausgesetzt, die eine zügige Integration erlauben. Alles dies kostet.Deutschland wäre in der komfortablen Lage, Mehrausgaben über neue Kredite sogar in den deutschen und europäischen Defizitgrenzen finanzieren zu können. In anderen Ländern wie Frankreich oder Italien sieht das anders aus. Dies liegt nicht an der Größe der neuen Aufgabe, sondern daran, dass diese Länder mit Strukturreformen nicht vorankommen. Das europäische Regelwerk für solide Staatsfinanzen ist so gebaut, dass es durchaus Spielraum für außergewöhnliche Ereignisse und unerwartete Ausgaben zulässt. Dazu würde es aber gehören, in einer konjunkturellen Normallage ohne staatliches Defizit auszukommen. Dann sind Abweichungen möglich, ohne nach neuen Regeln rufen zu müssen. Eine Lockerung der Defizitgrenzen wäre jetzt das falsche Signal für solche Länder, die noch ein Stück des Weges zu einem ausgeglichenen Haushalt vor sich haben.Eine Lockerung der Schuldenregel würde auch ein anderes falsches Signal senden: an die Bürger, denen die Politik vorgaukelt, der Zustrom von Flüchtlingen sei ein vorübergehender Ausnahmezustand, der an ihrem Leben nichts ändert. Selbst wenn nicht alle Menschen bleiben können, ein großer Teil von ihnen wird es. Somit geht es um einen Dauerzustand, der auf Jahre Steuergeld Geld verschlingen wird. Für 2016 mag das “Weiter so” im Bund noch funktionieren, da die gute Finanzlage 2015 es erlaubt, einen Reservetopf für die Flüchtlingsausgaben zu schaffen. Dieser wird aber nicht ewig reichen. Schäuble kommt nicht umhin, den Bundeshaushalt mit jährlichen Ausgaben von ungefähr 300 Mrd. Euro genauer unter die Lupe zu nehmen. Rund die Hälfte der Mittel fließt in Soziales. Für Investitionen gibt der Bund nur rund ein Zehntel aus. Bislang wird nicht evaluiert, ob die Steuergelder auch tatsächlich ihren politischen Zweck erreichen. Mit sogenannten Spending Reviews will Schäuble damit nun in zwei Feldern beginnen – bei der Förderung des kombinierten Verkehrs und der beruflichen Mobilität Jugendlicher in Europa. Die schwarze Null ist kein Selbstzweck. Aber sie muss das Ziel bleiben, das auch unter außergewöhnlichen Umständen auf Dauer nicht leichtfertig geopfert werden darf.——–Von Angela WefersMit dem Flüchtlingszustrom droht die frisch gewonnene Haushaltsdisziplin über Bord zu gehen. Dabei geht es um einen neuen Dauerzustand.——-