Pandemie

Russlands riskante Grat­wanderung in der Coronapolitik

Russland kämpft mit erschreckend hohen Zahlen bei Coronainfektionen. Aber Kremlchef Wladimir Putin scheut Lockdowns, um die fragile Wirtschaft zu retten. Die sinkende Erwerbsbevölkerung tut dabei ihr Übriges.

Russlands riskante Grat­wanderung in der Coronapolitik

Von Eduard Steiner, Moskau

Die Coronazahlen in Russland sind erschreckend hoch, vor allem die täglichen Todeszahlen. Aber Kremlchef Wladimir Putin scheut Lockdowns, um die fragile Wirtschaft zu retten. Diese könnte aber beizeiten durch die hohe Übersterblichkeit bedroht sein.

Zuletzt tobte eine Kontroverse um die wahren Coronazahlen in Russland. „Die Zahlen sind wirklich sehr schlecht“, sagte Wladimir Putins Sprecher Dmitri Peskow schon Anfang Oktober, als die Lage noch nicht so schlimm war wie heute. Während die „Financial Times“ (FT) neulich 753000 russische Coronatote seit Beginn der Pandemie bis Oktober zählte – womit Russland weltweit auf Platz 2 hinter den USA liegt –, gibt das russische Statistikamt Ros­stat mit Stand Anfang Oktober an, dass seit Pandemiebeginn etwa 462000 Menschen an Covid-19 gestorben sind.

Zuletzt hat sich die Lage verschlimmert. Und zwar mit täglich an die 40000 Neuinfektionen und vor allem täglich deutlich über 1000 Coronatoten so sehr, dass Putin die Tage von 28. Oktober bis 7. November sogar für arbeitsfrei erklärt hat. Das ist bemerkenswert. Denn eigentlich scheut er einen Lockdown ganz und gar. „Der Kreml fürchtet, seine Popularität zu verlieren“, sagt Sergej Gurijew, russischer Ökonom an der Pariser Hochschule Sciences Po, der Börsen-Zeitung. Die Angst vor Popularitätsverlust ist das eine. Das andere ist die Furcht, ein Lockdown könne die Erholung der Wirtschaft gefährden. Diese nämlich steht schon ohne Corona-Pandemie schwach da. „Man könnte sagen, der Kreml zieht die Ökonomie vor und nicht das Leben der Menschen“, sagt Gurijew.

Im Unterschied zu vielen Ländern hat Putin schon 2020 nur ein einziges Mal zu einem kurzen Lockdown gegriffen. Die Strategie war wirtschaftlich erfolgreich. So ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 nur um 3% zurück, während es weltweit um 3,5%, in der EU um 5,9% und in Großbritannien um knapp 10% fiel.

Gewiss, die Volkswirtschaften sind in ihrer Struktur kaum vergleichbar. „Im Unterschied zum Westen etwa machen Handel und Tourismus nur einen kleinen Teil der Wirtschaft aus“, erklärt Igor Nikolajew, Direktor des Moskauer Instituts für strategische Analysen, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Die russische Wirtschaft ist rohstofflastig. Und die Rohstoffkonzerne haben immer ohne Lockdown gearbeitet.“ Es sei wie eine Ironie der Geschichte, dass diese anfällige Wirtschaftsstruktur im Fall der Pandemie fast vorteilhaft erscheine.

Das liegt dieses Jahr freilich auch daran, dass die Preise für diverse Rohstoffe, bei denen Russland vorn mitmischt, Rekordhochs erreichten. Zuletzt der für Erdgas. Noch bedeutender aber ist der für Öl, Russlands wichtigstes Exportgut – er hat sich seit dem Absturz im Vorjahr weit stärker erholt als erwartet. Laut Ratingagentur Fitch fließt dieses Jahr mit 125 Mrd. Dollar an Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport sogar mehr ins Budget bzw. in außerbudgetäre Fonds als im Vorkrisenjahr 2019. Und weil Putin mit Coronahilfen geizt, sind die Sparbüchsen prall gefüllt. Die internationalen Gold- und Währungsreserven übertreffen mit 621,6 Mrd. Dollar sogar den Wert aus der beispiellosen Rohstoffhausse vor der Finanzkrise 2008.

Generell läuft die Erholung der Wirtschaft also besser als erwartet. Die Ratingagentur Moody’s hat die BIP-Prognose für 2021 soeben von 3,2% auf 4,8% erhöht. Damit bleibt das Wachstum zwar langsamer als das der G20-Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, zu denen Russland gehört und für die 5,8% prognostiziert sind. Aber selbst wenn Russland nur mit 4,2% wächst, wie es das Wirtschaftsministerium vorhersagt, wäre dies der höchste Wert seit zehn Jahren.

Bevölkerung geht zurück

Die Pandemie habe bisher keine negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft gehabt, halten die Ökonomen Gurijew und Nikolajew unisono fest. Längerfristig sei das jedoch nicht so sicher, weil die Übersterblichkeit extrem hoch sei und Covid-19 eben auch Menschen im Erwerbsalter dahinraffe. „Die natürliche Bevölkerungsentwicklung, also die Differenz zwischen Lebendgeburten und Sterbefällen, zeigt für 2020 einen Rückgang von 600000 Menschen. Und für 2021 wird ein Rückgang von 900000 erwartet”, sagt Nikolajew. Das liege nicht nur an Covid-19, aber eben auch daran.

Der Kreml scheint um das Problem zu wissen, weil die Wirtschaft jenseits des jetzigen Aufholeffekts und der Rohstoff-Sonderkonjunktur ohnehin kaum noch wächst und seit 2013 in der Stagnation gefangen ist, die zahlreichen Prognosen zufolge noch zehn Jahre anhalten könnte. Eindeutig gibt er inzwischen dem mangelnden Impfwillen der Bevölkerung die Schuld an der gesamten Corona-Misere. In der Tat ist die Impfbereitschaft extrem mau. Aktuell sind gerade mal 35,1% der Bevölkerung bzw. 44,2% der erwachsenen Bevölkerung vollständig geimpft. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada Center zufolge lehnen 45% die Impfung dezidiert ab. Das ist bemerkenswert, da Russland sich im Vorjahr gerühmt hat, mit Sputnik V den ersten Impfstoff weltweit zu haben. Der Schuss sei nach hinten losgegangen, so Alexej Lewinson, Soziologe bei Levada: „In den Augen der Bevölkerung erwies sich die Sputnik-Impfung nicht als Medizin, sondern als Propagandainstrument.“ Man sei skeptisch gegenüber Sputnik V. Und es mangele an Vertrauen in den Kreml.

Auf die Mithilfe der Bevölkerung kann Putin bei der Bekämpfung der Pandemie also nicht bauen. Er kann nur hoffen, dass diese nicht noch zum wirtschaftlichen Problem wird. An solchen hat er auch so genug. Zwei von ihnen ragen heraus. Aktuell die Inflation, die bereits über 8% liegt, wie Ökonom Nikolajew betont. Und generell – so Gurijew – das schlechte Investitionsklima.