LEITARTIKEL

Stillstand in Spanien

Viele Spanier fragen sich dieser Tage, ob sie vom Déjà-vu befallen sind. Wie schon im Dezember buhlen dieselben vier Spitzenkandidaten mit denselben Programmen und Grundsätzen um die Stimmen der Wähler am 27. Juni. Nach der Parlamentswahl vom 20....

Stillstand in Spanien

Viele Spanier fragen sich dieser Tage, ob sie vom Déjà-vu befallen sind. Wie schon im Dezember buhlen dieselben vier Spitzenkandidaten mit denselben Programmen und Grundsätzen um die Stimmen der Wähler am 27. Juni. Nach der Parlamentswahl vom 20. Dezember konnten sich die vier wichtigsten Parteien nicht über ein Regierungsbündnis einigen, weshalb die Spanier nun erneut an die Urnen zitiert werden. Seit einem halben Jahr herrscht weitgehend Stillstand im Land, obwohl die Wirtschaft unbeeindruckt von der Politik robuste Wachstumsraten von über 3 % registriert. Doch die meisten Unternehmen, von Großkonzernen bis zu Mittelständlern, haben ihre Investitionspläne vorerst auf Eis gelegt, wie die Arbeitgeberverbände und einzelne Vorstände versichern.Im Vergleich zum Dezember gibt es diesmal nur eine bedeutende Neuigkeit: das Bündnis der Linkspartei Podemos mit der Vereinigten Linken, die von der kommunistischen Partei dominiert wird, macht es dieser Zweckkoalition möglich, die Sozialisten (PSOE) als zweitstärkste Kraft im Lande zu überholen. Ansonsten deuten die Meinungsumfragen darauf hin, dass es auch am 27. Juni keine klaren Verhältnisse geben wird. Der zukünftige Ministerpräsident wird auf die Unterstützung von einem, wahrscheinlich sogar zwei Partnern angewiesen sein. Vor diesem Hintergrund hinterließ die einzige Fernsehdebatte der vier Spitzenkandidaten beim Zuschauer einen desolaten Eindruck. Als hätten sie aus den gescheiterten Verhandlungen der letzten Monate nichts gelernt, legten sich die Anwärter erneut fest, mit wem sie paktieren könnten und mit wem nicht. Nimmt man die Politiker beim Wort, dann dürfte es erneut extrem schwer, wenn nicht gar unmöglich werden, eine stabile Regierung zu bilden.Die konservative Volkspartei (PP) des amtierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy wird aller Voraussicht nach erneut stärkste Kraft im Parlament, allerdings weit entfernt von einer stabilen Mehrheit. Der einzige natürliche Partner ist die liberale Reformpartei Ciudadanos. Doch deren Chef, Albert Rivera, hält an seiner Position vom Dezember fest, wonach er die Konservativen nur unterstützen werde, wenn diese Rajoy austauschen. Ciudadanos lastet dem Regierungschef die politische Verantwortung für die Welle von Korruptionsfällen in der PP an. Abgesehen von dieser Personalie ist es wahrscheinlich, dass Konservative und Liberale auch zusammen nicht genug Sitze zum Regieren erhalten und somit auf die Sozialisten angewiesen sein könnten. Der Kandidat der PSOE, Pedro Sánchez, beteuert im Wahlkampf jedoch, dass er die PP nicht an der Macht erhalten werde.Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist eine Linksregierung von PSOE und Podemos theoretisch denkbar. Der Führer von Podemos, Pablo Iglesias, würde Sánchez als Ministerpräsidenten tragen und auch in eine Koalitionsregierung eintreten. Sollte sein Wahlbündnis jedoch vor den Sozialisten landen, verlangt er von Sánchez, dass dieser ebenfalls als Juniorpartner ein Linksbündnis ermöglicht. Der PSOE-Chef lehnt dies ab und ein wichtiger Teil der Partei, darunter die mächtigen Provinzfürsten, will gar nichts von einer Zusammenarbeit mit Podemos wissen. Ciudadanos und PP sowieso nicht.Alles in allem keine besonders erbauliche Perspektive. Bislang haben die Märkte erstaunlich gelassen auf den politischen Stillstand in Spanien reagiert, doch das wird bestimmt nicht so bleiben. Es sind tiefgreifende strukturelle Reformen nötig, um mehr hochwertige Arbeitsplätze in wettbewerbsfähigen Branchen zu schaffen. Bislang geht der Rückgang der Arbeitslosigkeit größtenteils auf Zeitarbeit im Touristikbereich zurück, der derzeit neue Besucherrekorde verzeichnet. Auch das Rentensystem und die Finanzierung der Regionen verlangen umfangreiche Reformen, die politischen Konsens erfordern. Schließlich wird die neue Regierung erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um das Defizit zu reduzieren, auch wenn die EU-Kommission ein Jahr Aufschub für das Erreichen der 3-Prozent-Marke in Aussicht gestellt hat.Das sind große Aufgaben für ein Land, das noch nie von einer Koalition regiert wurde. Sollten die Umfragen recht behalten, stehen nach dem 27. Juni wieder harte Verhandlungen bevor. Man kann nur hoffen, dass der Druck auf die Politiker, eine erneute Wiederholung der Wahl im Herbst zu vermeiden, stark genug sein wird, um eine Einigung zu erzwingen. Dafür wird aber der eine oder andere seine Vetos und roten Linien aufgeben müssen.——–Von Thilo SchäferDieselben vier Spitzenkandidaten buhlen am 27. Juni mit denselben Programmen und Grundsätzen um die Stimmen der spanischen Wähler.——-