Volkswirte halten Preisschub für temporär
Von Alexandra Baude, Frankfurt
Kräftiger als erwartet steigende Preise erregen derzeit die Gemüter und lassen eine spannende Sitzung des EZB-Rats am 10. Juni erwarten. Auch im aktuellen Konjunkturtableau der Börsen-Zeitung ist die Teuerung Thema, auch wenn sich die Prognosen nicht sonderlich verändert haben. Während die Europäische Zentralbank (EZB) das Phänomen als vorübergehend begreift, mehren sich die Sorgen, ob diese Sichtweise zutrifft oder nicht doch ein baldiger Kurswechsel weg von der ultralockeren Geldpolitik angezeigt ist. Denn der Preisdruck auf Erzeugerebene steigt enorm angesichts der aktuellen Lieferengpässe und Materialknappheiten, wie die Markit-Einkaufsmanagerumfragen belegen. Und laut einer aktuellen Umfrage des Ifo-Instituts wollen immer mehr Firmen höhere Beschaffungskosten weiterreichen.
Während die Inflationsrate für den Euroraum von unter null schrittweise auf +2,0% und somit den höchsten Wert seit Oktober 2018 gestiegen ist, haben sich die Medianprognosen, die das Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für das Konjunkturtableau monatlich ermittelt, kaum verändert. Lediglich der Maximalwert der Inflationsprognosen stieg auf 2,0% für dieses Jahr und auf 1,7% für 2022 (siehe Tabelle). Die Medianprognose von 1,7% für 2021 ist jedoch durchaus mit Inflationsraten von bis zu 3% im Laufe des Jahres vereinbar, wie ZEW-Experte Michael Schröder berichtet.
Die Inflationsprognosen weisen Schröder zufolge darauf hin, dass die Auguren nicht von einem erheblichen weiteren Anstieg ausgehen. Schon für 2021 werde ein geringerer Medianwert angenommen, und selbst die Maximalprognose lege eine im Lauf der Monate nachlassende Inflationsdynamik nahe. Sollte sich dieser prognostizierte Verlauf der Inflationsraten bewahrheiten, hätte die EZB keinen triftigen Grund, die geldpolitischen Zügel anzuziehen. Ein „Übergang zu einer weniger extrem lockeren Geldpolitik wäre allerdings ratsam, um ein Überschießen der Inflation zu vermeiden“, betonte Schröder. Auch wäre eine allmähliche Rückführung der Anleihekäufe sinnvoll, um die Signalwirkung der Anleihekurse und -renditen wiederherzustellen: „Derzeit spiegeln die Renditen von Staatsanleihen nur noch sehr eingeschränkt die Wachstums- und Inflationserwartungen der Kapitalmarktakteure wider“. Auch wenn EZB-Präsidentin Christine Lagarde unlängst mit Blick auf die Debatte über ein mögliches Auslaufen des Corona-Notfallanleihekaufprogramms PEPP sagte, es sei „viel zu früh und eigentlich unnötig, über längerfristige Fragen zu diskutieren“, müssen die Euro-Hüter dennoch entscheiden, wie es kurzfristig mit dem Kauftempo im Zuge des 1,85-Bill.-Euro-Programms weitergeht. Für das zweite Quartal hatte das Eurosystem das Tempo vorübergehend hochgefahren. Erwartet werden durchaus kontroverse Debatten, da einige Notenbanker sich eine Drosselung im dritten Quartal vorstellen können (vgl. BZ vom 2. Juni).
Deutschland bleibt vorn
Ein zu frühes Zurückfahren der Hilfsprogramme und eine Abkehr von der ultralockeren Geldpolitik gelten als Risiko für die Wirtschaftserholung. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Die Medianprognosen für das reale BIP-Wachstum wurden nur geringfügig verändert: Für das laufende Jahr wird ein Plus von 4,3% nach zuvor 4,2% erwartet, der Prognosewert von 4,2% für 2022 blieb im Vergleich zur Tableau-Erhebung im Mai bestehen. Der deutschen Wirtschaft trauen die Experten im Vergleich zum gesamten Euroraum nur ein unterdurchschnittliches Wachstum zu: Für 2021 liegt die BIP-Prognose bei 3,3 (zuvor: 3,6)% und für 2022 bei 3,9 (4,0)%. Laut Schröder könnte die deutsche Wirtschaft „doch noch die Nase vorn haben“ im Vergleich der drei Jahre 2020 bis 2022, da das deutsche BIP 2020 weniger stark zurückgegangen ist als die des übrigen Eurogebiets. Ende 2022 dürfte das reale BIP Deutschlands den Prognosen zufolge 2,1% über dem Vorkrisenniveau von Ende 2019 liegen, für das reale BIP des Eurogebiets wird nur ein Zuwachs von 1,5% vorhergesagt. Allerdings, so schränkt Schröder ein, ist „dieser Vorsprung Deutschlands bei der erwarteten mittelfristigen Wachstumsentwicklung seit 2019 in den letzten Monaten jedoch zurückgegangen“.
Konjunkturtableau Eurozone | ||||||||||
4. Quartal | 1. Quartal | Prognose 2021 | Prognose 2022 | |||||||
2019 | 2020 | 2020 | 2021 | Tief | Median | Hoch | Tief | Median | Hoch | |
Volkswirtschaftliche Daten | ||||||||||
Bruttoinlandsprodukt1 | 1,3 | –6,6 | –0,7 | 5 –0,6 | 3,9 | 4,3 | 4,6 | 3,3 | 4,2 | 5,0 |
Privatkonsum1 | 1,3 | –8,0 | –3,0 | 2,5 | 2,5 | 3,0 | 2,9 | 6,7 | 6,7 | |
Staatskonsum1 | 1,8 | 1,2 | 0,4 | 2,8 | 3,6 | 3,8 | 0,3 | 0,3 | 1,6 | |
Anlageinvestitionen1 | 5,7 | –8,3 | 1,6 | 4,4 | 6,2 | 7,3 | 5,0 | 5,0 | 6,1 | |
Exporte1 | 2,5 | –9,4 | 3,5 | 5,8 | 9,9 | 9,9 | 2,2 | 6,0 | 6,5 | |
Importe1 | 3,9 | –9,2 | 4,1 | 4,4 | 8,4 | 8,4 | 1,6 | 7,7 | 7,7 | |
letzter Wert | ||||||||||
Verbraucherpreise2 | 1,2 | 0,3 | 5 2,0 (Mai) | 1,3 | 1,7 | 2,0 | 0,7 | 1,4 | 1,7 | |
Arbeitslosenquote3 | 7,5 | 7,8 | 8,0 (April) | 8,0 | 8,5 | 8,7 | 7,5 | 7,9 | 9,0 | |
Zinsen und Zinsdifferenzen | In 3 Monaten | In 12 Monaten | ||||||||
3-Monats-Geld3 | –0,36 | –0,43 | –0,54 | –0,6 | –0,5 | –0,5 | –0,6 | –0,5 | –0,4 | |
10-jährige Anleihen3 | –0,14 | –0,57 | –0,18 | –0,5 | –0,1 | –0,1 | –0,5 | 0,0 | 0,3 | |
USA/Eurozone, langfristig3;4 | 205 | 151 | 180 | 170 | 190 | 210 | 140 | 200 | 225 | |
USA/Eurozone, kurzfristig3;4 | 269 | 107 | 67 | 70 | 73 | 80 | 70 | 75 | 80 | |
Eurozone lang/kurz3;4 | 22 | 14 | 36 | 5 | 40 | 50 | 5 | 50 | 77 | |
Redaktionsschluss: 2. Juni, Tagesdaten vom 1. Juni1) real gegen Vorjahr bzw. Vorquartal in %; 2) gegen Vorjahr in %; 3) Werte für 2019 und 2020 sind Jahresdurchschnitte, letzter Wert der Zinsen und Zinsdifferenzen sind Stände vom Vortag; 4) in Basispunkten; 5) erste vorläufige Schätzung |