Besuch in Washington

Zeit der „Blanko­schecks“ für Selenskyj läuft ab

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Eindruck hinterlassen in Washington. Doch künftig muss er sich auf mehr Widerstand gefasst machen – und die finanzielle Not der Ukraine ist riesig.

Zeit der „Blanko­schecks“ für Selenskyj läuft ab

det/rec Washington/Frankfurt

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat von seinem historischen Besuch in Washington nicht nur große Anerkennung, sondern auch die Aussicht auf zig Milliarden Dollar zusätzlicher Hilfen mit nach Kiew gebracht. US-Präsident Joe Biden hat zugesagt, die Militärhilfe um 1,85 Mrd. Dollar aufzustocken. In den Haushalt für 2023 hat Biden insgesamt ein Vielfaches eingestellt: 45 Mrd. Dollar an Direkthilfe und militärischer Unterstützung für die Ukraine zur Verteidigung gegen Russland. Von nun an könnte Selenskyj mit seinem Dringen auf Hilfen in Washington allerdings auf Probleme stoßen, denn künftig haben die Republikaner mehr Mitsprache.

Wenn die Ukraine sich demnächst im zweiten Jahr der russischen Angriffe erwehren muss, dürften die USA für einen wesentlichen Teil der Finanzierung aufkommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die Ukraine zwischen 40 und knapp 60 Mrd. Dollar benötigen wird. Der IWF hat deshalb gerade selbst ein viermonatiges Finanzierungsprogramm aufgelegt, um in der internationalen Gemeinschaft Geld einzusammeln.

Auch Deutschland und die Europäische Union legen kräftig nach. Die EU-Staaten haben Finanzhilfen über 18 Mrd. Euro für 2023 beschlossen. In Summe haben die EU und ihre Mitgliedstaaten – einschließlich Institutionen und Entwicklungsbanken – damit nach Analysen des Instituts für Weltwirtschaft die 50-Mrd.-Euro-Marke an Hilfszusagen passiert. Damit hätten sie inzwischen sogar das mit Abstand größte einzelne Geberland USA überholt.

Angesichts des riesigen Finanzbedarfs bestand Selenskyjs wichtigstes Publikum in Washington denn auch nicht aus den Millionen von US-Bürgern, die seine Auftritte zu Hause am Bildschirm verfolgten. Seine Appelle galten in erster Linie den Parlamentariern im US-Kapitol. Weit über das imminente Haushaltsgesetz hinaus werden die Parlamentarier nämlich auch künftig darüber zu entscheiden haben, wie weit sie den Geldhahn für die Ukraine aufdrehen wollen. Eingetütet waren schon jene 1,85 Mrd. Dollar an Militärhilfe, die Biden Selenskyj vorher zugesagt hatte. Das Geld ist strategisch wichtig, weil darin auch eines der Patriot-Raketenabwehrsysteme enthalten ist, um die Kiew seit Monaten bittet.

Die entscheidende Frage ist aber nun, wie großzügig die Politiker in Washington in Zukunft vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession sein werden. Als der Kongress nämlich im Mai ein massives Hilfspaket bewilligt hatte, waren die Sorgen um einen möglichen Konjunktureinbruch in den USA nicht annähernd so ausgeprägt wie heute. Folglich argumentieren viele Republikaner, dass mehr für die Belebung der eigenen Wirtschaft getan werden sollte, anstatt massive Beträge an ein Land zu schicken, gegenüber dem die USA schon deswegen nicht in der Pflicht stehen, weil die Ukraine nicht einmal der Nato angehört.

Eine wichtige Rolle wird die be­vorstehende Kräfteverschiebung im US-Repräsentantenhaus spielen, wo die Republikaner ab Januar die Mehrheit stellen werden. Kevin McCarthy, der dort aller Voraussicht nach Nancy Pelosi als Mehrheitschef ablösen wird, sagte, er wolle „keinen Blankoscheck ausstellen“. Dabei ließ Selenskyj auf seiner ersten Auslandsreise seit Kriegsbeginn durchblicken, dass – so wichtig die 45 Mrd. sind – er in Zukunft weitere Forderungen an die USA stellen wird. Sobald aber in Washington im Januar die neue politische Realität Einzug hält und die Republikaner mehr zu sagen haben, könnte er mit neuen Wünschen auf taube Ohren stoßen.

Selenskyjs Auftritt in Washington machte Eindruck auf Spitzenpolitiker wie Beobachter in der US-Hauptstadt. Dem Gast gelang es sogar, kurz vor einer harten Deadline die Verhandlungen über den Haushalt in den Hintergrund zu drängen. Demokraten und Republikaner stritten zu dieser Zeit noch um letzte Einzelheiten des neuen Haushaltsgesetzes. Ohne den am Donnerstag vereinbarten Deal steuerten die USA auf einen weiteren Shutdown zu, einen lähmenden Verwaltungsstillstand in der US-Hauptstadt (siehe Text rechts).

Selenskyj war da bereits auf der Heimreise. Ungeachtet des Tauziehens auf dem Kapitolshügel und der hektischen Weihnachtseinkäufe, die Amerikaner in letzter Minute tätigen, war es ihm gelungen, für kurze Zeit die Nation in seinen Bann zu ziehen. Mit einer bewegenden Pressekonferenz im Weißen Haus und der knapp halbstündigen Rede vor beiden Kammern des Kongresses konnte er auch Durchschnittsamerikanern, die von Russlands Verbrechen nur durch gelegentliche Fernsehberichte erfahren, das Leid und Elend seiner Landsleute näherbringen.

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