Notiert in Moskau

Ach, die russische Seele

Ganz schlau wird man aus den Russen wohl nicht. Ein Punkt aber stimmt positiv und hoffnungsvoll: Die vielgestaltige Sehnsucht nach einem normalen und ruhigen Leben.

Ach, die russische Seele

Notiert in Moskau

Ach, die russische Seele

Von Eduard Steiner

Über die berühmte russische Seele, die als Stereotyp seit Jahrhunderten von ihren mehr oder weniger kundigen Ergründern bemüht wird, lässt sich zumindest eines mit Sicherheit sagen: Sie ist widersprüchlich und komplex. So mutet es angesichts der starken Ausblendung des Ukrainekrieges in den dominanten Staatsmedien zwar nicht verwunderlich an, dass nur die Hälfte der Befragten ihn überhaupt verfolgt, wie das renommierte Meinungsforschungsinstitut Levada-Center soeben wieder eruierte. Und auch dass drei Viertel das Vorgehen der russischen Streitkräfte dort goutieren, lässt sich mit der militärischen Zensur, die Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow neulich als beispiellos und gerechtfertigt bezeichnete, relativ leicht erklären. Dass sich aber gleichzeitig zwei Drittel für den Beginn von Friedensverhandlungen aussprechen, passt da gar nicht ins Bild und zeugt wohl von der Sehnsucht nach einem ruhigen und normalen Leben.

Allenthalben große Sehnsucht

Die Sehnsucht ist auch in der Wirtschaft da. Sie „kann den Frieden kaum erwarten“, sagte Vladislav Inozemcev, einer der renommiertsten russischstämmigen Ökonomen und Mitbegründer des Centers for Analysis and Strategies in Europe (CASE), dieser Tage im Gespräch mit der „Börsen-Zeitung“. Sichtbar werde das an der Börse, die jedes Signal Richtung geopolitischer Entspannung mit einem Kurssprung quittiere.

Die Sehnsucht nach Normalität, Frieden und Komfort ist natürlich auch bei jenen da, die über ein gewisses Vermögen verfügen und daher andere Möglichkeiten haben als der Durchschnittsrusse. Allein, sie scheinen nicht wirklich daran zu glauben, dass ihre Sehnsucht in Russland selbst so bald gestillt wird. Daher machen sie das, was sie schon seit vielen Jahren machen: Sie sehen sich nach Immobilien im Ausland um – sei es für den Eigengebrauch, zum Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung oder eben als Geldanlage.

Wunschziel Asien und Orient

Allein, Krieg und Sanktionen haben es mit sich gebracht, dass die Russen nicht mehr selbstverständlich dorthin können, wohin sie wollen. Und so hat sich auch die Top-Liste der favorisierten Alternativwohnorte fundamental verändert, wie die Daten der internationalen Immobilienmaklerfirma Tranio für das erste Halbjahr 2025 zeigen, die dem führenden russischen Wirtschaftsmedium RBK vorliegen. Die Haupttendenz wird nochmals klarer: Weg von Europa hin nach Asien bzw. in den Orient. Allen voran nach Thailand, das inzwischen laut Tranio satte 25,6% der russischen Nachfrage nach ausländischen Immobilien auf sich vereinigen kann. Dahinter folgen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und die Türkei.

Dass auf die drei genannten Länder inzwischen fast 45% der russischen Immobiliennachfrage im Ausland kommt, hat in erste Linie mit der Tatsache zu tun, dass das vormals so begehrte Europa aufgrund der Sanktionen restriktiver geworden ist und daher an Popularität bei Russen verloren hat. Ganz erloschen ist die Zuneigung zu Europa freilich nicht, denn in den Top-10 der begehrtesten Länder für einen Immobilienkauf befinden sich immer noch fünf EU-Staaten.

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