Riskanter Boom im außerbörslichen Handel
Im Blickfeld
Riskanter Boom im außerbörslichen Handel
US-Börsen und Retail-Broker bauen ihre Angebote abseits der regulären Handelszeiten aus. Analysten befürchten in der Folge Stabilitätsverluste im Gesamtmarkt.
Von Alex Wehnert, New York
Wenn um vier Uhr nachmittags die Schlussglocke läutet, kehrt an der Wall Street mitnichten Ruhe ein. Denn der außerbörsliche Handel am US-Markt erfährt kräftige Schübe – dabei sind längst nicht mehr nur institutionelle Hochfrequenztrader aktiv. Auch Retail-Broker haben ihre Angebote abseits der regulären Zeiten ausgeweitet: Bei Robinhood können Privatanleger an fünf Tagen die Woche rund um die Uhr 43 Exchange-Traded Funds und ausgewählte Einzelaktien wie Tesla und Apple handeln, Interactive Brokers hält gar Sitzungen mit über 10.000 verfügbaren Werten ab.
Investorenschützer fürchten, dass Anleger somit in riskantere Trades gelockt werden – mit einer erhöhten Volatilität und abnehmenden Stabilität im Gesamtmarkt als Folge. Tatsächlich kommt es bei Werten wie der Aktie der angeschlagenen New York Community Bancorp außerbörslich wiederholt zu extremen Kursausschlägen. Beim Fahrdienst Lyft sorgte ein Tippfehler in der Quartalsmitteilung, in der das Unternehmen für 2024 einen Anstieg der Ebitda-Marge um 500 statt 50 Basispunkte prognostizierte, jüngst für eine nachbörsliche Explosion. Dabei wurden viele Trades von Computern ausgeführt, die einzelne Kennzahlen scannen und Kauf- und Verkaufsentscheidungen automatisiert treffen.
Schnelle Reaktion auf News
Handelsdienstleister wie die weltgrößte Terminbörse CME sehen ihre „Out-of-hours“-Angebote hingegen als stärkere aktive Absicherungswerkzeuge für Investoren. „Bei marktbewegenden Neuigkeiten steigt die Nachfrage nach dem Handel von Produkten außerhalb der regulären US-Zeiten“, sagt Paul Woolman, globaler Leiter Aktienindex-Produkte. „Rund um die Berichtssaison, die Veröffentlichung wichtiger Konjunkturdaten oder große geopolitische Ereignisse wie den Russland-Ukraine-Konflikt beobachten wir aufgrund eines steigenden Risikomanagement-Bedarfs erhöhte Volumina.“
Der Handel mit Optionen auf die E-Mini-Futures der CME, die den S&P 500 nachbildeten, habe von Jahr zu Jahr zugenommen. In der Folge habe auch die Aktivität im Übernachthandel angezogen: Im Jahr 2023 hätten die Marktteilnehmer an der Terminbörse pro Tag über 200.000 solcher Kontrakte gehandelt. „Seit 2019 hat sich diese Zahl mehr als verdoppelt – der Markt ist inzwischen also sehr liquide“, betont Woolman.
Mehr Möglichkeiten für Privatanleger
Dies wirke sich auch auf andere Indizes aus. Zugleich sei die hohe Inflation ein Treiber der Volumina. Durch Übernacht-Trading-Angebote könnten europäische und asiatische ebenso wie US-Investoren schnell auf geldpolitische Entscheidungen reagieren. Auch die CME hat dabei die Teilnahmemöglichkeiten für Privatanleger ausgebaut und bietet Micro-Futures an, die ein Zehntel eines Standardkontrakts auf den S&P 500, Nasdaq 100, Russell 2000 oder Dow Jones Industrial Average abbilden. „Der Anteil dieser Produkte, der außerbörslich gehandelt wird, übertrifft häufig sogar jenen der Übernacht-Transaktionen in unseren E-Mini-Produkten“, sagt Woolman.
Andere Marktteilnehmer beobachten den Boom mit Skepsis. „Bei aller Werbung für Angebote im außerbörslichen Trading ist es ganz wichtig, die immensen Vorteile einer Konzentration auf die Kernhandelszeiten nicht zu vergessen“, sagt Gerhard Summerer, Händler bei der DZ Bank in New York. „Die Liquidität und Markttiefe ist zwischen 9.30 Uhr und 16 Uhr US-Ostküstenzeiten ganz einfach am stärksten, das ist entscheidend für eine effiziente Preisfindung und damit auch das langfristige Vertrauen der breiten Masse an Anlegern in die Stabilität der Märkte.“
Außerbörsliche Sitzungen sind in den USA kein neues Phänomen. „Das waren immer schon sehr dünne Märkte, bei denen aber immerhin noch die New York Stock Exchange und Nasdaq als Organisator dabei waren – bei den Angeboten von Robinhood und Interactive Brokers ist dies aber schon nicht mehr der Fall“, sagt Summerer. Diese Firmen verwendeten Algorithmen und setzten eigenes Kapital ein, um Liquidität zu simulieren und die Geld-Brief-Spannen möglichst eng zu halten.
Stiller Kampf um Anteile
Anbieter von alternativen Trading-Systemen wie Blue Ocean Technologies kooperierten mit den Brokern, um sich als Kraft im außerbörslichen Handel zu etablieren und von dort aus in die Regelzeiten vorzudringen. Sie wollten sich darüber als Anbieter von Daten positionieren, deren Verkauf die lukrativste Einnahmequelle für Börsen darstelle. „Um erst gar nicht die Möglichkeit aufkommen zu lassen, dass sie Handelsumsätze und damit auch Datenvolumina an Drittanbieter verlieren, halten klassische Marktbetreiber dann eben mit eigenen außerbörslichen Angeboten dagegen“, führt Summerer aus.
Angesichts der breiteren Teilnahmemöglichkeiten müssen laut Blair Adam, Handelschef beim Vermögensverwalter American Century, mehr Informationen zu den Risiken des außerbörslichen Tradings verbreitet werden. Retail-Investoren müssten „die verfügbare Liquidität kennen, Limits nutzen und die Regeln des jeweils ausführenden Handelsdienstleisters verstehen“, betont der Trading-Experte. Summerer geht noch weiter: Für die breite Masse der Retail-Anleger sei das außerbörsliche Trading aufgrund der geringen Liquidität und des hohen Aufwands in Wahrheit unabhängig vom Handelsplatz kaum interessant. Dass strenge regulatorische Vorgaben regelten, wer überhaupt in dem Markt agieren dürfe, sei berechtigt. Denn komme es zu Verzerrungen, könnten für Kleinanleger insbesondere außerhalb der Kernzeiten schnell irreparable Schäden entstehen – selbst wenn der Regulator den Handel direkt aussetze.
Crash zeigt Risiken auf
Wie schnell es im elektronischen Trading zu Verwerfungen kommen könne, habe der Systemcrash bei Knight Capital 2012 gezeigt. Damals vergaß ein Techniker, einen neuen Programmiercode auf einen der Server zu kopieren, über die das Routingsystem des Marketmakers für Aktienorders lief. Die Software ging darauf in einen Kaufrausch über und schnappte sich in der ersten Stunde nach Handelseröffnung an der New York Stock Exchange über 150 Aktien zu Investitionskosten von rund 7 Mrd. Dollar, ohne dass diese Trades durch tatsächliche Mittel gedeckt waren – es folgten massive Kursdisruptionen bei den betroffenen Werten.
Seither haben der technologische Fortschritt und die stärkere globale Vernetzung der Märkte laut Sicherheitsexperten dazu geführt, dass Computerprobleme und Cyberattacken noch weitreichendere Folgen haben könnten – auch für institutionelle Investoren. Solchen Risiken versuchen Regulatoren wie die Börsenaufsicht SEC durch strenge Kapitalvorgaben und Transparenzpflichten für Handelsdienstleister und Hochfrequenztrader vorzubeugen. Ruhe dürfte dennoch auch künftig nicht einkehren, wenn die Uhr an der Wall Street vier schlägt.
Leitartikel: US-Broker verfolgen einen gefährlichen Traum
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Robinhood führt Handel rund um die Uhr ein
Robinhood will Privatanlegern an fünf Tagen pro Woche rund um die Uhr den Handel ausgewählter ETFs und Aktien ermöglichen. Über die Maßnahme sucht der Broker verloren gegangenes Momentum zurückzugewinnen.
Angeschlagene NYCB kommt nicht zur Ruhe
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