Wettbewerbsrecht

Kartellbehörden erhalten mehr Instrumente

Im Zusammenspiel mit europäischen Vorgaben steht die deutsche Kartellrechtspraxis vor neuen Herausforderungen.

Kartellbehörden erhalten mehr Instrumente

Von Ulrich Denzel, Christian von Köckritz und Martin Raible *)

Am 19. Januar 2021 ist die 10. Novelle des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Kraft getreten. Die auch als GWB-Digitalisierungsgesetz bezeichnete Änderung hat es in sich und verleiht dem Bundeskartellamt insbesondere weitreichende neue Eingriffsmöglichkeiten im Bereich der Digitalwirtschaft. Zudem wurden die Vorschriften zur Fusionskontrolle angepasst. Im Zusammenspiel mit europäischen Vorgaben steht die deutsche Kartellrechtspraxis vor neuen Herausforderungen.

Im Zentrum des GWB-Digitalisierungsgesetzes steht die Verschärfung der Missbrauchsvorschriften, mit denen der Gesetzgeber das Bestehen oder den Ausbau von Marktmacht, zunächst vor allem bei großen Digitalkonzernen, beschränken will.

Zwei Vorschriften stechen hervor: Erstens der neue § 20 Abs. 3a GWB, der ein Einschreiten gegen Wettbewerbsbehinderungen auf Märkten mit Netzwerkeffekten vor dem Eintritt von Marktbeherrschung ermöglicht, um das möglicherweise unumkehrbare Umkippen eines Marktes („Tipping“) zu verhindern. Die praktische Schwierigkeit ist, den richtigen Eingriffszeitpunkt zu identifizieren. Greift das Verbot zu früh, kann es wettbewerblich erwünschtes Wachstum und Innovation bei einem dann zu Unrecht sanktionierten Unternehmen verhindern. Daher muss das Tipping-Verbot in der Praxis sorgfältig ausbalanciert werden.

Zweitens kommt § 19a GWB als dem Flaggschiff des neuen GWB-Missbrauchsrechts überragende Bedeutung zu. § 19a GWB gilt nur für „Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“. Es geht um mehr als nur um normale Beherrschung eines einzelnen Marktes. Der Gesetzgeber zielt auf Unternehmen, die in einer Art „Superdominanz“ als „Gatekeeper“ das Wettbewerbsgeschehen auf digitalen Märkten prägen und ein marktübergreifendes digitales Ökosystem kontrollieren, mit dem sie die Aktionsparameter für andere Marktteilnehmer bestimmen können. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Google (auch im Licht der von der Europäischen Kommission gegen Google geführten Kartellverfahren) eines der Paradebeispiele für die Anwendung des neuen § 19a GWB ist.

Superdominante Konzerne

Für „superdominante Unternehmen“ gelten nach § 19a Abs. 2 GWB besonders strenge Regeln. Die Vorschrift enthält einen abschließenden Katalog von sieben Verhaltensweisen, die das Bundeskartellamt „superdominanten Unternehmen“ verbieten kann und die nicht vom bereits geltenden allgemeinen Marktmissbrauchsverbot erfasst sind. Dazu gehört u.a. das Verbot, eigene Angebote gegenüber denjenigen von Wettbewerbern bei der Darstellung oder durch entsprechende technische Vorinstallation zu bevorzugen, oder das Verbot andere, noch nicht beherrschte Märkte z.B. durch Kampfpreisstrategien oder Bündelangebote aufzurollen. Es kann auch verboten werden, durch entsprechende Datennutzung Marktzutrittsschranken auf bislang nicht beherrschten Märkten zu errichten oder die Interoperabilität mit anderen Diensten und die Portabilität von Daten zu erschweren. Im Katalog findet sich auch das mögliche Verbot, unangemessene Vorteile für die Behandlung von Angeboten eines anderen Unternehmens zu fordern, z.B. weil, obwohl nicht zwingend erforderlich, die Übertragung von Daten verlangt wird.

Beim Verbot dieser Verhaltensweisen greift zulasten der „superdominanten Unternehmen“ eine Beweislastumkehr. Sie müssen nachweisen, dass das vom Bundeskartellamt beanstandete Verhalten ausnahmsweise sachlich gerechtfertigt ist, was das Vorgehen des Bundeskartellamts gegen Digitalkonzerne erheblich erleichtert und beschleunigt. Der Beschleunigung dient auch die Ausgestaltung des Rechtswegs: Bei Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundeskartellamts nach § 19a GWB ist der Bundesgerichtshof erste und letzte Instanz zur Klärung aller tatsächlichen und rechtlichen Fragen.

§ 19a GWB steht in engem Zusammenhang und einem gewissen Spannungsverhältnis mit aktuellen Gesetzesvorhaben auf europäischer Ebene, insbesondere dem Digital Markets Act (DMA). Mit dem DMA will die EU großen und mächtigen Betreibern digitaler „core platform services“ (sog. „Gatekeepern“) bestimmte Verhaltensweisen verbieten. Die relevanten „Gatekeeper“ sollen zudem dazu verpflichtet werden, der Kommission sämtliche Zusammenschlüsse mit anderen Anbietern von digitalen Diensten zu melden.

Der DMA nimmt dieselben Unternehmen in den Blick wie § 19a GWB. Die nach dem DMA verbotenen Verhaltensweisen überschneiden sich auch mit denjenigen, die das Bundeskartellamt verbieten kann, jedoch bestehen teils wichtige Divergenzen. Daher ist fraglich, welche Rolle § 19a GWB nach dem Inkrafttreten des DMA spielen wird. Das Bundeskartellamt plädiert mit anderen nationalen Wettbewerbsbehörden für eine parallele Anwendung von DMA einerseits und § 19a GWB und vergleichbaren Vorschriften in anderen EU-Ländern andererseits. Setzt sich diese Auffassung durch, wäre das Ziel des DMA, den Rechtsrahmen für die Tätigkeit digitaler „Gatekeeper“ im Binnenmarkt zu harmonisieren, kaum erreichbar.

Der DMA soll im ersten Halbjahr 2022 verabschiedet werden. Erste Entscheidungen auf Basis des DMA wären frühestens im zweiten Halbjahr 2022 zu erwarten. Demgegenüber hat das Bundeskartellamt mittlerweile Verfahren gegen Google, Amazon, Apple und Facebook auf Basis von § 19a GWB eingeleitet. Dabei prüft das Bundeskartellamt zum einen, ob die Unternehmen unter § 19a Abs. 1 GWB fallen, und nimmt zum anderen für Google und Facebook bereits konkrete Verhaltensweisen unter die Lupe. Wie schnell diese Untersuchungen einschließlich der sich mit Sicherheit anschließenden Gerichtsverfahren abgeschlossen werden, bleibt abzuwarten.

Höhere Schwellen

Auch in der Fusionskontrolle gibt es praxisrelevante Neuerungen. Besonders gewichtig ist die Anhebung der für die Anmeldepflicht von Transaktionen maßgeblichen beiden Inlandsumsatzschwellen von 25 Mill. auf 50 Mill. Euro bzw. von 5 Mill. auf 17,5 Mill. Euro. Dadurch wird die Zahl der Fusionskontrollanmeldungen beim Bundeskartellamt geschätzt um rund 40% reduziert. So werden personelle Ressourcen für die wirklich wichtigen Zusammenschlussprüfungen und für die Durchsetzung der Missbrauchsvorschriften im Digitalbereich frei. Gleichzeitig wird der Anwendungsbereich der „Bagatellmarktausnahme“ erweitert: Ein Zusammenschluss darf trotz Vorliegens der Untersagungsvoraussetzungen nicht verboten werden, wenn die Bedenken ausschließlich Märkte betreffen, auf denen im Inland weniger als 20 Mill. Euro (bislang 15 Mill. Euro) umgesetzt werden.

Allerdings hat der Gesetzgeber zugleich die Fusionskontrolle an anderer Stelle deutlich verschärft. Nach § 39a GWB kann das Bundeskartellamt Unternehmen künftig unter engen Voraussetzungen verpflichten, Zusammenschlüsse in Wirtschaftszweigen anzumelden, die zuvor Gegenstand einer Sektoruntersuchung gewesen sind, wenn die Umsätze der beteiligten Unternehmen die normalen Anmeldeschwellen nicht erreichen. Damit soll die Fusionskontrolle auch solche Konstellationen erfassen, bei denen ein (großes) Unternehmen schrittweise kleine Wettbewerber übernimmt, was bislang oft fusionskontrollfrei möglich war.

Eine weitere Verschärfung der Fusionskontrolle ergibt sich aus dem Zusammenspiel mit dem europäischen Recht. Nach einem neuen Leitfaden der Europäischen Kommission aus März 2021 ermutigt diese erstmals Mitgliedstaaten ohne eigene Prüfungszuständigkeit, relevante Fälle nach Brüssel zu verweisen. Die Kommission kann so Zusammenschlüsse kontrollieren, die weder nach EU-Recht noch nach nationalem Recht anmeldepflichtig wären. Auch dies hat eine Verdichtung des Kontrollnetzes durch Flexibilisierung zum Ziel, geht aber zwangsläufig zulasten der Rechtssicherheit und Planbarkeit von Unternehmenskäufen.

Insgesamt werden die Kartellbehörden durch die beschriebenen Neuerungen mit mehr Instrumenten und mehr Flexibilität ausgestattet. Das Kartellrecht mit all seinen Facetten wird so für Unternehmen tendenziell noch relevanter werden als bislang.

*) Dr. Ulrich Denzel, Dr. Christian von Köckritz und Dr. Martin Raible sind Partner von Gleiss Lutz.