70 Jahre Nordrhein-Westfalen - Mut zum Handeln

Gemeinsam an einem Strang ziehen - Arbeitsplätze entstehen, wenn jemand wagt, Risiken einzugehen

70 Jahre Nordrhein-Westfalen - Mut zum Handeln

Nordrhein-Westfalen (NRW) feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag. Mit 70 Jahren liegt das Resümieren nicht fern. Hat das Land doch seine Eigenheiten, deren Entstehungsgeschichte gerade für viele Jüngere nicht begreifbar ist. Es ist aber wichtig, das Woher zu verstehen, damit das Wohin vermittelbar wird und schmerzvolle Anpassungen nicht zu unüberwindbaren Hindernissen werden.NRW ist – legt man Einwohnerzahl und wirtschaftlichen Output zugrunde – das größte Bundesland. Dies ist so von Beginn an und auch hinlänglich bekannt. Bei der Einordnung nach Größe im Sinne von Fläche liegt Nordrhein-Westfalen mit einem Anteil von 10 % an Deutschland auf dem dritten Platz gleichauf mit Baden-Württemberg. Größer sind nur Bayern mit einem Anteil von 20 % und Niedersachsen mit 13 %. Zusammengefasst leben also in NRW relativ viele Menschen auf vergleichsweise wenig Fläche.Wie geht so was? Ganz klar, durch die Vielzahl der Städte in NRW. Doch wie stark das Land durch diese Struktur geprägt ist, dürfte nicht ganz so bekannt sein. Denn stellt man die Frage nach der Zahl der Großstädte in Deutschland insgesamt, können meist nur wenige die korrekte Antwort geben. Nach gängiger Definition muss eine Großstadt mehr als 100 000 Einwohner vorweisen, dies sind in Deutschland 78 Städte. Allein 28 hiervon befinden sich in Nordrhein-Westfalen. In den größten Flächenländern Bayern und Niedersachsen gibt es hingegen jeweils nur acht, in Baden-Württemberg neun Großstädte.In der Folge leben 45 % der Menschen Nordrhein-Westfalens in Großstädten. Dies ist mit Abstand der höchste Wert in ganz Deutschland. Ursache für diese Agglomeration war der Rohstoffreichtum der Region insbesondere bezüglich der Steinkohle, die in der Industrialisierung zusammen mit der Stahlerzeugung eine zentrale Rolle spielte. Allein zehn der NRW-Großstädte haben mehr als 300 000 Einwohner und liegen zumeist in enger Nachbarschaft entlang von Rhein und Ruhr. Eine derartig urbane Struktur kennen die anderen Bundesländer nicht. Auf engem Raum vereintDie Abstimmungsanforderungen, die sich allein durch die Nähe ergeben, bringen die Kompromissbereitschaft der beteiligten Kommunen schon in kleinerem Rahmen an ihre Grenzen. Doch wie schwierig eine sinnvolle Planung von Infrastruktur und Gewerbeansiedlungen ist, wenn eine derartig hohe Zahl von Großstädten auf engem Raum vereint ist, die alle ihre Traditionen, ihr Selbstbewusstsein und nicht zuletzt ihre Daseinsberechtigung verteidigen, kann man außerhalb Nordrhein-Westfalens kaum ermessen.Vielleicht gibt es aber gar nicht so viel abzustimmen, wenn doch jede Stadt sich selbst genügt? Als Bundesland mit dem höchsten Produktionswert von Gütern und Dienstleistungen in Deutschland sollte doch jeder genug vom Kuchen abbekommen können. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit fragt aber nicht nach den absoluten Werten, sondern orientiert sich an dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner. Hier weist NRW inzwischen ein Niveau auf, das nur noch knapp unter dem Bundesdurchschnitt liegt.Nordrhein-Westfalen hatte aber nicht schon immer mit einer unterdurchschnittlichen Wirtschaftskraft zu kämpfen – ganz im Gegenteil. Im Jahr 1957, als die Sozialproduktmessung auf der Ebene der westdeutschen Bundesländer begann, lag das BIP pro Kopf in NRW um 23 % über dem Durchschnitt. Es war damit deutlich höher als im nächsterfolgreichen Bundesland Baden-Württemberg. Hessen und Bayern waren dagegen noch weit unterdurchschnittlich.Bis 1970 erschütterten mehrere Kohle- und Stahlkrisen Nordrhein-Westfalen. Das BIP pro Kopf sank sehr stark, übertraf aber trotzdem noch den Durchschnitt um 6 %. Hessen und Bayern verbesserten sich dagegen spürbar. In den folgenden 22 Jahren setzte sich die jeweilige Entwicklung fort. NRW rutschte bis 1992 um 4 % unter die durchschnittliche Wirtschaftskraft der alten Bundesländer, während Hessen nun um 14 % darüber lag und Bayern immerhin um 2 %. Danach ließ die Heftigkeit der Abwärtsbewegung in NRW nach. 2015 betrug dann der Abstand zum westdeutschen Mittel 7 %. In Hessen wirkte sich die Finanz- und Staatsschuldenkrise deutlich negativ aus. Das BIP pro Kopf sank in der Folge, liegt aber immer noch um 10 % über dem Niveau der alten Bundesländer. Diesen Stand hat inzwischen auch Bayern erreicht.Diese großen Trends der regionalen Wirtschaft machten vor der Bevölkerungsentwicklung nicht halt. Hier ist es interessant, einen noch längeren Zeitraum zu betrachten. Die Volkszählung aus dem Jahr 1939 als Basis genommen zeigt, dass Nordrhein-Westfalen in seiner heutigen Abgrenzung durch den Flüchtlingsstrom nach dem Krieg einen Einwohnerzuwachs verzeichnen konnte, der zunächst allerdings weniger stark war als beispielsweise in Hessen und Bayern. Dies holte das Bundesland aber bis 1961 auf, so dass zum damaligen Zeitpunkt alle drei Länder einen Bevölkerungsstand aufwiesen, der um gut ein Drittel über dem von 1939 lag. Dynamik lockt MenschenAllerdings flachte sich der Trend in den 1960er Jahren in NRW deutlich ab. So blieb die Zunahme im Langfristvergleich 2015 versus 1939 auf insgesamt 50 % begrenzt, während Hessen und Bayern insbesondere nach der Wiedervereinigung Menschen anzogen und nun im gesamten Zeitraum einen Bevölkerungszuwachs von 80 % vorweisen können. Der wirtschaftliche Aufwind wird demnach von Zuwanderern genau wahrgenommen und lenkt die Neuankömmlinge in die Regionen, die Arbeitskräfte suchen.Dieser Verteilungsprozess findet selbstverständlich nicht nur zwischen den Bundesländern statt, sondern auch innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen. Wirtschaftsdynamik lockt Menschen an, die häufig bleiben und zu Einwohnern werden. So gibt es neben den Beispielen für schrumpfende Regionen auch prosperierende Zentren in NRW:- Münster hat sich seit Ende der 50er Jahre von sehr niedrigem Niveau aus hochgearbeitet und kann jetzt ein BIP pro Kopf vorweisen, das um fast 50 % über dem westdeutschen Durchschnitt liegt.- Düsseldorf und Köln hatten 1957 eine komfortablere Ausgangsposition. Auch dort stieg die Wirtschaftsleistung pro Einwohner kräftig und übertraf bis in die 1990er Jahre den Westdurchschnitt um mehr als das Doppelte beziehungsweise um 60 %. Danach flauten die Zuwächse ab, so dass der Vorsprung schrumpfte.- Essen konnte seine Stellung mit einem Plus von 20 % über dem BIP pro Einwohner über die vielen Jahre hinweg halten.- Dortmunds Startwert war dagegen Ende der 50er Jahre mit 50 % über dem Bundesdurchschnitt sehr hoch. Bis 1970 waren allerdings nur noch 16 % übrig, und 2013 musste Dortmund als drittgrößte Stadt in NRW sogar einen um 7 % niedrigeren Wert einräumen. Dieses Schicksal teilt die Stadt mit vielen anderen NRW-Großstädten, die zum Teil noch deutlich schlechtere Werte in puncto Wirtschaftskraft aufweisen.Wie können die wachstumsschwachen NRW-Regionen wieder an Dynamik gewinnen? Sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, gehört in das Reich der Märchen. Hilfe annehmen und diese sinnvoll verwenden dagegen nicht. Hier gilt es, zusammen attraktive Konzepte zu entwickeln, die so überzeugend sind, dass Unternehmen sich dort ansiedeln. Dabei spielt die Infrastruktur zwar eine wichtige Rolle, entscheidender dürfte aber sein, dass sich die Akteure vor Ort schnell auf die Wünsche der Investoren einstellen können und gemeinsam mit ihnen an einem Strang ziehen.Dass hier vielleicht schon etwas in Gang gekommen ist, zeigt das Wachstum. Von 2003 bis 2013 lag der BIP-Anstieg im Ruhrgebiet etwas höher als außerhalb. Dienstleistungsunternehmen entwickeln sich in ganz Nordrhein-Westfalen gut, ebenso wie die Beschäftigung, die wie im Bundesdurchschnitt zulegt. Die Arbeitsplätze entstehen, wenn jemand etwas wagt und Risiken eingeht. Für die nächsten 70 Jahre wünschen wir Nordrhein-Westfalen Mut. Denn “Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende” (Demokrit).—Gertrud R. Traud Chefvolkswirtin und Bereichsleiterin Volkswirtschaft/Research der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba)—Barbara Bahadori Stellvertretende Abteilungsdirektorin Volkswirtschaft/ Research, Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba)