Börsengänge

Wenn der IPO-Plan ins Wanken gerät

Eigentlich wollten 2022 mehr als ein Dutzend deutscher Unternehmen mit Milliardenbewertung an die Börse gehen. Doch der Porsche-Börsengang wurde nicht nur das zweitgrößte IPO weltweit, sondern zugleich auch das einzig nennenswerte von insgesamt nur vier Debüts in Deutschland.

Wenn der IPO-Plan ins Wanken gerät

Eigentlich wollte 2022 mehr als ein Dutzend deutscher Unternehmen mit Milliardenbewertung an die Börse gehen. Doch der Porsche-Börsengang wurde nicht nur das zweitgrößte IPO weltweit, sondern zugleich auch das einzig nennenswerte von insgesamt nur vier Debüts in Deutschland. Mit einem Erlös von 9,4 Mrd. Euro (9,1 Mrd. Dollar) musste die Volkswagen-Tochter nur dem südkoreanischen Hersteller von Elektroauto-Batterien LG Energy Solution den Vortritt lassen, wie aus dem „IPO-Barometer“ der Wirtschaftsprüfungsfirma EY hervorgeht. LG Energy erlöste umgerechnet 10,7 Mrd. Dollar, auf Rang 3 folgt der Mobilfunker China Mobile mit umgerechnet 8,2 Mrd. Dollar.

„Das Volumen der Aktienemissionen in Deutschland ist um 80 % geschrumpft, wenn man den alles beherrschenden Porsche-Börsengang herausrechnet“, sagt Thorsten Zahn, Head of Equity Capital Markets in der deutschsprachigen Region.

In ganz Europa gab es neben Porsche nur drei Börsengänge mit einem Emissionsvolumen oberhalb von 300 Mill. Euro. Oberhalb von 50 Mill. Euro gab es europaweit immerhin 60 IPOs. Zu der Flaute beigetragen hat auch die schlechte Erfahrung der IPO-Investoren des Vorjahres: Laut Zahn haben die Kurse der Unternehmen, die 2021 in Europa an die Börse gekommen sind, im Durchschnitt gegenüber dem Ausgabepreis 40 % eingebüßt.

„Investoren wissen nicht, wie sie mit einer von der Fed induzierten Rezession umgehen sollen. Sie müssen sich erst daran gewöhnen. Es findet ein massives Repricing statt“, berichtet Zahn von der Ratlosigkeit im Umgang mit der neuen Situation nach dem vom billigen Notenbankgeld befeuerten IPO-Boom der beiden Vorjahre. „Bei IPOs gibt es einen sehr großen Rückstau, der sich ab Mai 2023 auflösen könnte. Im Markt wird für Deutschland mit zehn Börsengängen mit Emissionserlösen von je mehr als 250 Mill. Euro im kommenden Jahr gerechnet.“ Zudem würden viele Kapitalerhöhungen und Wandelanleihen erwartet.

Einige der IPO-Kandidaten, die 2022 nicht zum Zuge kamen, haben sich in der Zwischenzeit abseits der Börse Kapital verschafft: Ein Beispiel ist der Arzneimittelhersteller Cheplapharm aus Greifswald, der noch Anfang des Jahres den Gang an die Börse geplant hatte, um 750 Mill. Euro frisches Geld einzusammeln, doch kurz darauf das IPO aufgrund der „derzeit ungünstigen Marktbedingungen“ und der „weltweit stark gestiegenen Volatilität der Aktienmärkte“ abgeblasen hatte.

Stattdessen holte sich Cheplapharm kürzlich 550 Mill. Euro vom Finanzinvestor Atlantic Park und dem Staatsfonds GIC aus Singapur. Das Unternehmen gab dazu ein nachrangiges Wandelinstrument aus, das obligatorisch in Stammaktien umgewandelt wird. Ein Börsengang ist damit nicht mehr sofort dringend nötig, aber auch nicht endgültig vom Tisch.

Batterie mit Kapital aufgeladen

Auch der Batteriehersteller Northvolt holte sich statt IPO das Geld abseits der Börse. Das schwedische Unternehmen nahm für die Erweiterung des Fabriknetzes in Europa 1,1 Mrd. Dollar in Form von Wandelanleihen auf – bei einer größeren Gruppe großer Investoren. Größter Anteilseigner des Start-ups ist der Volkswagen-Konzern, der auch diesmal mit am Start war. Weiteres Kapital steuerten AMF, Ava Investors, Baillie Gifford, Folksam Group, PCS Holding, Swedbank Robur und TM Capital bei.

In derselben Branche der Elektromobilität musste sich ABB eine Alternative zum IPO der Division E-Mobility ausdenken. Abseits der Börse beschaffte der Schweizer Technologiekonzern 200 Mill. sfr (204 Mill. Euro) für das Wachstum der ABB E-Mobility. Im Rahmen einer Pre-IPO-Privatplatzierung wurden Aktien ausgegeben und damit neue Minderheitsaktionäre beteiligt. In das Geschäft mit Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge eingestiegen sind auf diesem Weg die Amag-Erbin Eva Maria Bucher-Haefner sowie die Interogo Holding. Letztere gehört der Unternehmensstiftung des Mö­belhändlers Ikea. Auch der E-Mobility-Verwaltungsratschef Michael Halbherr beteiligte sich.

„Wir halten an unserer Strategie fest, unser E-Mobility-Geschäft separat an die Börse zu bringen, sofern die Marktbedingungen konstruktiv sind“, kündigte ABB-Chef Björn Rosengren an. Auf Basis der Pre-IPO-Privatplatzierung lässt sich ein Unternehmenswert von 2,5 Mrd. sfr errechnen.

Es war also durchaus möglich für Unternehmen, abseits der Börse Wachstumskapital einzusammeln. Doch es gibt auch Unternehmen wie den österreichischen Gasmotorenhersteller Innio aus dem Portfolio des Finanzinvestors Advent, die ihre Börsenpläne ohne bisher erkennbare Alternative in aller Stille aufgegeben haben. „Kein Kommentar“, heißt es bei dem Unternehmen.

Die Bilanz der Börsengänge 2022 fällt ernüchternd aus. Die Zahl der Neuemissionen brach weltweit um 45% auf 1333 ein, das Emissionsvolumen lag mit 180 Mrd. Dollar sogar um 61% unter dem hohen Vorjahresniveau. Mit einem Minus von 22% schlug sich China noch am besten. 55% des weltweiten Emissionsvolumens entfielen da­mit auf chinesische Firmen.

Allein 278 Unternehmen sagten einen bereits angekündigten Börsengang ab, deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt. „Nach dem Rekordjahr 2021 war 2022 durch geopolitische Spannungen, eine hohe Inflation und starke Zinserhöhungen sowie eine entsprechend hohe Volatilität gekennzeichnet“, erklärte EY-Listing-Experte Martin Steinbach die Entwicklung. Potenzielle Anleger hielten sich angesichts schwächerer Aktienmärkte, sinkender Be­wertungen und enttäuschender Kursentwicklungen nach der Erstnotiz zurück.

Der Rückgang lag maßgeblich an Finanzinvestoren, die sonst oft über einen Börsengang aus ihren Beteiligungen aussteigen. Sie brachten 2022 nur 65 Unternehmen aus ihren Portfolios an die Börse, laut EY so wenige wie seit 20 Jahren nicht. 2021 waren es noch 286.

Aber auch der Spac-Boom, bei dem seit 2020 Hunderte leerer Unternehmenshüllen (Special Purpose Acquisition Companies) an die Börsen ge­bracht wurden, ist abgeebbt. Gingen 2021 noch 682 Spacs mit einem Emissionsvolumen von 172 Mrd. Dollar an die Börse, brach die Zahl um mehr als drei Viertel auf 155 und das Volumen sogar um 90% auf 16,5 Mrd. Dollar ein. 480 Spacs sind noch auf der Suche nach Übernahmeobjekten, 80% von ihnen müssen laut Steinbach bis Mitte 2023 fündig werden, sonst müssen sie den Anlegern ihr Geld zurück­geben.

Eine schnelle Trendwende zu mehr Börsengängen ist nicht in Sicht. Das einzige Unternehmen, das derzeit an IPO-Plänen für die erste Jahreshälfte festhält, ist die United-Internet-Webhosting-Tochter Ionos aus Montabaur.

Doch macht der allmählich gebremste Zinsanstieg dem EY-Fachmann Steinbach leise Hoffnung: „Damit könnte das kommende Jahr günstigere Bedingungen für Börsengänge bieten, so dass die weltweiten IPO-Aktivitäten insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahres wieder an Fahrt gewinnen könnten.“

Für viele Akteure an den Aktienmärkten wird das Jahr 2022 nicht als ein Jahr der Superlative in Erinnerung bleiben – und es wird nicht viele Höhepunkte geben, auf die man gerne zurückblickt. „Der Anstieg der Inflation auf ein noch nie dagewesenes Niveau hat die Zentralbanken zu raschen Zinserhöhungen veranlasst und die Aktienmärkte über weite Strecken des Jahres in den Bärenmarkt getrieben“, fasst Bastian Schiedat vom Bankhaus Berenberg zusammen. „Parallel dazu hat eine globale Energiekrise, die auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine zurückzuführen ist, die Volatilität weltweit erhöht.“ 2022 sei in keinerlei Hinsicht mit dem IPO-Rekordjahr 2021 vergleichbar.

Warten auf ruhigere Zeiten

Über weite Strecken des Jahres 2022 ruhten die IPO-Aktivitäten und warteten auf eine geringere Volatilität, ruhigere Aktienmärkte und mehr Transparenz. „Steigende Inflation und Zinssätze haben zu Unsicherheit geführt, und Unsicherheit ist das Kryptonit für IPOs“, erklärt Schiedat. „Die Zahl der Aktienemissionen in Europa ist auf 191 Transaktionen mit einem Erlös von circa 64 Mrd. Euro gesunken – das ruhigste Jahr seit 1995.“

Der Volatilitätsindex Vix – das „Angstbarometer“ der Börse – lag in diesem Jahr bisher nur an 21 Handelstagen unter 20, was die Vermarktung von IPOs, Bezugsrechtsemissionen und aktiengebundenen Instrumenten erschwert. „Ohne die Börsennotierung der Porsche AG wäre das Volumen der Börsengänge in Europa gegenüber dem Vorjahr um 93% zurückgegangen und hätte in etwa dem Niveau von 2009 entsprochen“, veranschaulicht Schiedat die gespenstische Ruhe. „Cashstarke, Dividenden zahlende Unternehmen haben die karge IPO-Landschaft in ganz Europa dominiert und sich damit von den Technologieunternehmen in der Frühphase abgesetzt, die 2021 einen Großteil der Aktivitäten ausmachten.“

Eine Ausnahme von der IPO-Flaute gibt es: Ein Anstieg der Aktivitäten im Nahen Osten hat das EMEA-Aktienvolumen ge­stützt. In der Region waren die Börsengänge nicht nur „mehrfach überzeichnet“, sondern 50- bis 100-fach, da neben Privatanlegern auch einheimische und institutionelle Anleger auf die neuen Aktien setzten.

Von Christoph Ruhkamp, Frankfurt

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.