GastbeitragStromlieferverträge

Bilanzierungsregeln behindern Energiewende in Industrieunternehmen

Unerwünschte Effekte in der Bilanzierung führen dazu, dass Unternehmen keine „grünen“ Stromlieferverträge abschließen. Die Industrie erwartet, dass der internationale Standardsetzer IASB hier unverzüglich handelt.

Bilanzierungsregeln behindern Energiewende in Industrieunternehmen

Gastbeitrag

Bilanzierungsregeln behindern Energiewende in Industrieunternehmen

Mit dem Europäischen Green Deal wird seitens der EU-Mitgliedstaaten die Zielsetzung verbunden, bis 2050 Klimaneutralität durch die Reduktion von Treibhausgasemissionen zu erreichen. Die deutsche Bundesregierung setzt daher auf eine grundlegende Umstellung der Energieversorgung durch eine massive Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Auf diese Weisen soll bereits bis 2030 ca. 80% des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien abgedeckt werden, wofür der Wind- und Solarenergie die größte Bedeutung zukommt.

Die Unternehmen in Deutschland unterstützen diesen Weg; so ist zum Beispiel bei der Deutschen Telekom die Dekarbonisierung bereits seit Jahren fester Teil der Unternehmensstrategie. Die derzeit bestehenden Bilanzierungsregeln erschweren die Investitionen in erneuerbare Energien jedoch erheblich.

Langfristige Lieferverträge

Zur Erreichung der ambitionierten Ziele der Bundesregierung und zur Integration von Nachhaltigkeitsgesichtspunkten in die Unternehmensstrategie leisten langfristige Lieferverträge über Strom aus erneuerbaren Energien einen wichtigen Beitrag (sog. Green Power Purchase Agreements oder kurz PPAs). Unterschieden werden physische und virtuelle PPAs. Bei physischen PPAs wird eine Strommenge direkt an einem Standort verbraucht (Beispiel: Photovoltaikanlage neben einer Fabrik) oder über das öffentliche Netz geliefert. Bei virtuellen PPAs kommt es hingegen zu keiner physischen Stromlieferung, sondern nur zu einem finanziellen Ausgleich zwischen dem Produzenten und dem Erwerber des grünen Stroms.

Der deutsche Strommarkt ist durch starke Schwankungen in der Stromnachfrage charakterisiert. Aufgabe der Erzeuger ist es, die benötigte Energieerzeugungsmenge zu planen und entsprechend des Nachfragbedarfs durch eine gezielte stufenweise Ab- oder Zuschaltung von Stromerzeugungsquellen zu strukturieren. Ein gewisser Ausgleich der Nachfrageschwankungen kann dabei auch über eine große Anzahl von Einzelabnehmern im Rahmen einer Portfoliosteuerung vorgenommen werden.

Schwer planbar

Während bei der Stromerzeugung aus fossilen Energieträgern die Produktionsmenge noch planbar war, ist dies bei der dezentralen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen nur mit deutlichen Einschränkungen möglich. Stromgeneratoren aus erneuerbaren Quellen wie Windräder und Solaranlagen können zur Steuerung der Produktionsmenge nicht beliebig zu- oder abgeschaltet werden; auch besteht keine Möglichkeit, die Windstärke und Sonnenstrahlung zu beeinflussen. Zudem ist aufgrund des derzeit noch kleinen Abnehmerkreises der Portfolioausgleich nicht im gleichen Maße möglich wie bei der fossilen Stromerzeugung.

Gleichzeitig ist es einem einzelnen Industrieunternehmen nicht möglich, den notwendigen Mengenausgleich selbst herzustellen, z.B. über eine kurzzeitige Erhöhung des eigenen Stromverbrauchs. Aus diesem Grund sind Industrieunternehmen gezwungen, den nicht verbrauchten Strom eigenständig oder über einen Händler am Markt zu verkaufen.

Definition als Finanzderivat

Durch die Abhängigkeit von der schwankenden Strompreisentwicklung erfüllen die langfristigen Stromlieferverträge bei Industrieunternehmen nach den internationalen Bilanzierungsvorschriften die Definition eines Finanzderivats. Derivate dienen grundsätzlich als Instrumente zur Risikominimierung. Die als Derivate klassifizierten Stromverträge begründen hingegen mit Blick auf die unplanbaren Auswirkungen auf die Darstellung der Ertragslage selbst ein Risiko für die betroffenen Unternehmen. Denn Derivate sind zu jedem Stichtag erfolgswirksam mit dem beizulegenden Zeitwert („fair value“) zu bewerten.

Insoweit führen die bestehenden Bilanzierungsregeln des IFRS 9 für physische und virtuelle PPAs zu einer Erfassung von Bewertungseffekten im operativen Betriebsergebnis der beziehenden Unternehmen. Da die PPA-Verträge allerdings vorwiegend auf den Bezug von grünem Strom als Beitrag zur Dekarbonisierung abzielen und keinen Bezug zu den erzielten Umsatzerlösen aufweisen (zum Beispiel aus Telekommunikationsdienstleistungen), beeinträchtigt die Erfassung eben jener Bewertungseffekte aus PPAs die Steuerungsrelevanz und den Aussagegehalt des ausgewiesenen operativen Ergebnisses erheblich. Das durch PPA-Effekte infizierte operative Ergebnis vermittelt – entgegen der Intention der IFRS-basierten Rechnungslegung – gerade keinen „true and fair view“.

Unfreiwillig Stromhändler

Die Behandlung als Derivat läuft der Intention und der Bedeutung für das Geschäftsmodell der Unternehmen zuwider: Stromeinkauf, der ausschließlich dem eigenen Verbrauch dienen soll, wird durch bestehende Bilanzierungsregeln zum Finanzderivat, und Industrieunternehmen werden unter bilanziellen Gesichtspunkten zum Stromhändler, was aber keinesfalls die Absicht eines ausschließlich nach Preis- und Versorgungssicherheit strebenden Industrieunternehmens ist.

Durch die Langfristigkeit der Verträge besteht das bilanzielle Risiko zudem bereits bei Abschluss der Verträge und nicht erst bei der erst Monate oder auch Jahre später beginnenden Lieferung. Eine langfristige Prognose der Verbrauchsmengen über 15 bis 20 Jahre ist zudem mit erheblichen Unsicherheiten verbunden.

Standardsetzer reagiert

Die betroffenen Unternehmen stehen derzeit im Austausch mit dem International Accounting Standards Board (IASB). Dieser hat bereits reagiert und die Thematik in sein Arbeitsprogramm aufgenommen. Vorschläge zur Überarbeitung von IFRS 9 und damit zur Lösung der derzeitigen Gemengelage liegen vor. Zum einen sind in Bezug auf virtuelle PPAs die strengen Anforderungen an das Hedge Accounting für Derivate zu lockern. Zum anderen sind für physische Stromlieferverträge Ausnahmeregelungen für den Eigenverbrauch von Strom auszuweiten. Um zu verhindern, dass „grüne“ Stromlieferverträge aufgrund unerwünschter Bilanzierungsfolgen nicht abgeschlossen werden, besteht die klare Erwartungshaltung, dass der IASB unverzüglich handelt. Der Blick in die USA zeigt, dass Bilanzierungsregelungen sinnvollen Entwicklungen nicht im Wege stehen müssen. Die vergleichbaren US-Regelungen könnten de facto dazu führen, dass es Unternehmen in den USA leichter gemacht wird, eine „grüne“ Strategie umzusetzen.

Michael Brücks, Leiter Grundsätze und Methoden im Group Accounting der Deutschen Telekom

Folker Trepte, Leiter Energiewirtschaft bei PwC Deutschland

Michael Brücks

Leiter Grundsätze und Methoden im Group Accounting der Deutschen Telekom

Folker Trepte

Leiter Energiewirtschaft bei PwC Deutschland