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Cryptocurrencies - Weckruf für europäische Banken

Börsen-Zeitung, 27.11.2020 Das europäische Bankensystem hat mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Trotzdem dürfen die europäischen Banken nicht den Blick für die Zukunftstechnologien verlieren. Das gilt insbesondere für die...

Cryptocurrencies - Weckruf für europäische Banken

Das europäische Bankensystem hat mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Trotzdem dürfen die europäischen Banken nicht den Blick für die Zukunftstechnologien verlieren. Das gilt insbesondere für die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) beziehungsweise die Blockchain-Revolution.Im Januar 2009, als das weltweite Finanzsystem am Abgrund stand, ging Bitcoin an den Start. Als “Peer-to-Peer Electronic Cash System” auf Grundlage der DLT in ihrer besonderen Ausprägung als Blockchain versprach die Kryptowährung Dezentralität, Integrität und Pseudoanonymität der Transaktionsdatenhaltung auf einer verschlüsselten, anreizgesteuerten Blockchain, die ohne einen zentralen Knotenpunkt auskommt. Dies war zweifelsohne die technologische Antwort des 21. Jahrhunderts auf die Vertrauenskrise des weltweiten Finanzsystems, die sich insbesondere in der Verwundbarkeit großer systemrelevanter Banken wie Lehman manifestiert hat. Stabiler, aber verwundbarHeute, über zehn Jahre später, ist das europäische Finanzsystem zwar stabiler. Aber die grundsätzliche Verwundbarkeit durch Bank Runs ist unverändert gegeben. Und das trotz verschärfter Kapital- und Liquiditätsanforderungen, vereinheitlichter mikro- und makroprudenzieller Aufsicht, eines neuen Abwicklungsregimes und strengerer Regeln für systemrelevante Finanzinstitutionen. Wenngleich nicht als weltweites grenzüberschreitendes Zahlungsmittel, so hat sich Bitcoin mit einem Marktanteil von rund 60 % als führende Cryptocurrency behauptet. Sie wird insbesondere zu Spekulationszwecken und als digitales “Gold” genutzt. Per Mitte November 2020 betrug die gesamte Marktkapitalisierung aller 7 700 Cryptocurrencies rund 500 Mrd. US-Dollar. Drei Krypto-KategorienDas dynamischste Segment im Blockchain-Universum ist “Decentralized Finance” – kurz DeFi. Mittlerweile werden in dem DeFi-Ökosystem Kryptowährungen im Wert von 16 Mrd. Dollar in verschiedensten dezentralen Finanzanwendungen auf der Ethereum-Blockchain investiert. Neben den Cryptocurrencies beginnen sich sogenannte Security Tokens zu etablieren. Dabei handelt es sich um dematerialisierte, auf einer Blockchain registrierte Eigentumsrechte, beispielsweise an Wertpapieren. Marktbeobachter gehen davon aus, dass die Durchdringung mit Security Tokens schnell einige Prozentpunkte des Bruttosozialprodukts erreichen kann.Als dritte Krypto-Kategorie haben sich sogenannte Stablecoins etabliert wie z. B. Tether oder auch USD Coin. Der prominenteste Vertreter in dieser Kategorie ist Libra, das von Facebook vorangetriebene globale Stablecoin-Projekt. Das Potenzial von Libra durch bis zu 2,5 Milliarden Facebook-Nutzer weltweit würde die Souveränität mancher Zentralbank in Frage stellen.Bisher haben die Entwicklungen in diesen drei Kategorien weitestgehend ohne Beteiligung europäischer Banken stattgefunden. Man hat zwar mit der zugrunde liegenden DL- beziehungsweise Blockchain-Technologie anwendungsbezogen gemeinsam in Konsortien mit Wettbewerbern experimentiert, aber aufgrund der Anonymität (Stichwort Geldwäsche- und Terrorismusfinanzierungsrisiken) und Volatilität (Stichwort Verbraucherschutz) einen Bogen um Cryptocurrencies gemacht. Wegen massiver politischer Widerstände und erheblicher regulatorischer Unsicherheiten hat sich bisher auch noch keine einzige Bank an dem Libra-Stablecoin-Konsortium beteiligt.Die passive Haltung der europäischen Banken dürfte sich allerdings aus zwei Gründen bald ändern. Zum einen sollen Cryptocurrencies, Security Tokens und Stablecoins mit der geplanten EU-Richtlinie Markets in Crypto Assets (MiCA) in die bestehende Finanzmarktregulierung integriert werden. Zum anderen hat auch die EZB, getrieben von den Entwicklungen in China (Stichwort digitaler Yuan) und dem Libra-Projekt, ihre Vorüberlegungen zum digitalen Euro weiter konkretisiert und einen Projektstart Mitte 2021 in Aussicht gestellt. Die Kombination aus einem stabilen regulatorischen Rahmen und einem digitalen Euro könnten der DL- beziehungsweise Blockchain-Technologie im europäischen Finanzsystem noch in diesem Jahrzehnt zum Durchbruch verhelfen. Investitionsoffensive nötigWas bedeutet das konkret für die europäische Banken? Sie sollten verstärkt und mit Nachdruck in DL- beziehungsweise Blockchain-Technologie investieren, ob durch Aufbau von Spezialistenteams, Kooperationen mit Krypto-Fintechs und/oder auch durch Beteiligungen und Akquisitionen. Konkret sollten die europäischen Banken ihre Investitionen auf drei Schnittstellen zum Krypto-Universum konzentrieren: erstens die Privat- und Firmenkunden-Schnittstelle, also die Entwicklung von programmierbaren Wallets und Embedded-Finance Lösungen; zweitens die institutionelle Schnittstelle, also insbesondere den Aufbau von Crypto-Exchange-, Asset-Management- und Custody-Dienstleistungen. Und drittens die Schnittstelle zum Zahlungsverkehrssystem, also zu Sepa oder dem Target-System.Die europäischen Banken müssen diese Schnittstellen im Schulterschluss mit den europäischen Infrastrukturbetreibern nachhaltig besetzen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie den Wettstreit um ein benutzerfreundlicheres, effizienteres und offeneres Finanzsystem gegen Krypto-Fintechs (wie Coinbase), Neo-Banken und -Broker (wie Robinhood), Online-Zahlungsdienstleister (wie Paypal und Square) sowie Social-Media-Riesen (wie Facebook) verlieren. Dr. Axel Wieandt, vormals CEO der Hypo Real Estate/Deutsche Pfandbriefbank , heute u. a. Adjunct Professor of Finance, Kellogg Graduate School of Management, Northwestern University und Honorarprofessor an der WHU – Otto Beisheim School of Management. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——-Von Axel WieandtDie Bewältigung der Corona-Pandemie darf Europas Banken nicht den Blick auf Zukunftsthemen wie die Blockchain-Technologie versperren. —