Türkei

Lira-Schwäche ohne Ende?

Die Leitzinssenkungen der türkischen Zentralbank trotz hoher Inflation haben eine Lira-Abwertungsspirale in Gang gesetzt. Aus der Lira-Krise wird es keinen einfachen Ausweg geben.

Lira-Schwäche ohne Ende?

Von Ulrich Leuchtmann*)

Die türkische Lira hat 2021 mehr als 40% gegenüber dem Euro verloren. Vor allem seit Mitte November ist der Wertverfall dramatisch. Mitte November lag der Euro-Lira-Kurs noch bei 11,30, am Montag wurden bereits Kurse über 16 notiert. Die Ursache für die Lira-Schwäche ist leicht ausgemacht: Trotz deutlich anziehender Inflation (Ende 2020: 14,6%, November: 21,3%) hat die türkische Zentralbank (TCMB) seit September ihren Leitzins deutlich von 19% auf zuletzt 15% gesenkt. Stand der reale Leitzins (Zins abzüglich Inflationsrate) zu Jahresanfang noch bei +2,4%, liegt er nun bei −6,3%. Die türkische Geldpolitik befindet sich tief im expansiven (und damit: inflationstreibenden) Bereich.

Mit dieser Geldpolitik hat die TCMB eine Spirale in Gang gesetzt: Die Lira-Schwäche führt über Preissteigerungen für importierte Güter zu höherer heimischer Inflation, die wiederum – weil die TCMB diese so offensichtlich nicht unterbindet – zu weiterer Lira-Abwertung führt.

Markt preist Abwertung ein

Man könnte meinen, dass die Lira-Schwäche übertrieben sei. Schließlich ist die Abwertung deutlich höher als ihr inflationsbedingter heimischer Kaufkraftverlust. Hat der Devisenmarkt also übertrieben? Ich sehe das anders. Devisenmärkte müssen vorausschauend agieren. Wenn sie annehmen müssen, dass eine Zentralbank die Inflation nicht zügelt, dann müssen sie die nächsten Runden der Abwertungs-Inflations-Spirale bereits einpreisen. Anders gesagt: Wenn jedermann erwartet, dass die Lira in Zukunft weiter Kaufkraft verliert, dann verliert sie bereits heute an Kaufkraft. Und das geht am Devisenmarkt schneller als an den Märkten für Güter und Dienstleistungen in der Türkei, weil sie selbst bei Inflationsraten jenseits der 20-Prozent-Marke Preise nicht so reagibel sind, wie die Wechselkurse es sind.

Das Gefährliche daran ist: Es gibt in dieser Situation kein „Gleichgewicht“, an dem der Prozess endet. Solange man davon ausgehen muss, dass die Zentralbankpolitik weiterhin nicht willens ist, der Inflation Einhalt zu gebieten, ist für die Lira ein exponentieller Abwertungspfad unvermeidlich. Nun sind viele Regierungen gar nicht unglücklich über Währungsschwäche und ziehen Inflation einer straffen Geldpolitik vor. Weil die Effekte auf Wachstum und Beschäftigung oft positiv sind. Eine Lira, die schneller abwertet als heimische Preise und Löhne steigen, verbessert die Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Exporteure und derjenigen Sektoren, die gegenüber Importen konkurrieren müssen.

Doch gibt es – wie bei allem – zu viel des Guten. Aus drei Gründen. Erstens birgt solch dramatischer Währungsverfall das Risiko, dass heimische Unternehmen, Haushalte oder Banken, die in Fremdwährungen verschuldet sind, sich plötzlich in einer überschuldeten Situation wiederfinden. Wir dürfen nicht vergessen: Die türkische Leistungsbilanz ist normalerweise defizitär, d.h., die türkische Volkswirtschaft importiert mehr als sie exportiert. Das war lange ein Zeichen dafür, dass das Ausland gewillt war, der Türkei Kredit zu gewähren. Weil Kapital, welches dort angelegt ist, besonders rentierlich war. Schließlich ist die Türkei an sich ein attraktiver Investitionsstandort. Die fundamental günstigen Rahmenbedingungen haben aber dazu geführt, dass die Türkei Nettoschuldner gegenüber dem Ausland ist. Nichts anderes impliziert eine im Mittel defizitäre Leistungsbilanz. Optimisten mögen annehmen, dass diese Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland so strukturiert sind, dass nicht türkische Wirtschaftssubjekte das Wechselkursrisiko tragen, sondern die Gläubiger (dass also die Verbindlichkeiten in Lira denominiert sind) oder dass Dritte im Ausland (ausländische Banken oder spekulative Investoren) dieses Risiko versichert haben. Zum Teil mag das zutreffen. Die Erfahrung aus anderen Währungskrisen (wie der Asien-Krise in den späten 1990er Jahren) lehrt jedoch, dass das in der Regel nicht der Fall ist. Ein guter Teil des Währungsverfalls führt zu Überschuldungssituationen. Damit wird die Lira-Schwäche schnell zu einer realwirtschaftlichen Belastung für die heimische Volkswirtschaft.

Solch hohe und dramatisch steigende Inflation wie in der Türkei bringt zweitens typischerweise Verwerfungen mit sich. Oft ist es gerade die Mittelschicht einer Gesellschaft, die in Anlageformen investiert, die nur ungenügend gegen Inflation geschützt sind: festverzinsliche Anlagen. Diese werden durch die Inflation entwertet und erodieren so die Ersparnisse eines großen Teils der Bevölkerung.

Auch wenn es positive konjunkturelle Effekte einer schwachen Währung gibt, darf drittens nicht vergessen werden, dass diese teuer erkauft werden. Denn schließlich bedeutet eine Abwertung: Die Türkei gibt ihre Exportgüter billiger her und zahlt mehr für ihre Importe. Netto bleibt also vor allem ein negativer Einkommenseffekt für die türkische Volkswirtschaft.

Ich befürchte, es kein einfaches Ende der derzeitigen Lira-Krise. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat wiederholt deutlich gemacht, dass er niedrige Zinsen bevorzugt. Und die per präsidialen Dekreten erfolgten zahlreichen Personalwechsel in der Führungsriege der TCMB lassen erahnen, dass sein Durchgriff auf die Geldpolitik durchaus materiell ist. Daher ist eine Kehrtwende in der Geldpolitik wohl erst dann realistisch, wenn die realwirtschaftlichen Belastungen keinen anderen Ausweg mehr erlauben. Und wenn die erst sichtbar werden, könnte ein Exodus von Kapital eine neue Welle von Lira-Schwäche auslösen. Hinzu kommt: Eine geldpolitische Kehrtwende ist leichter gesagt als getan. Die Lira-Krise 2018 konnte mit drastischen Zinserhöhungen beendet werden. Doch steht zu befürchten, dass der Devisenmarkt seine Lehren daraus Episode gezogen hat. In den Folgejahren wurde die Geldpolitik zu rasch und zu stark wieder gelockert.

Kein einfacher Ausweg

Nachhaltig könnte nur eine Abkehr Erdogans von seinem Mantra niedriger Zinsen wirken. Doch wäre der Markt angesichts des Nachdrucks, mit dem Erdogan niedrige Zinsen preist, wohl nur schwer von einem Sinneswandel zu überzeugen. Normalerweise hilft in solch einer Situation der Eingriff Außenstehender, sprich: des Internationalen Währungsfonds, der von außen den nötigen Vertrauensvorschuss beisteuern kann. Doch auch das hat Erdogan ausgeschlossen. Daher gibt es keinen einfachen Weg aus der Lira-Krise. Ganz bestimmt sind die Interventionen der TCMB zur Stützung der Lira kein geeigneter Weg. Auch Zentralbanken mit weitaus höheren Devisenreserven fällt es schwer, sich dauerhaft den Marktkräften entgegenzustemmen, wenn diese fundamental unterfüttert sind. Doch ist die TCMB halt nicht üppig mit Reserven ausgestattet. Den ausgewiesenen Reserven von 88 Mrd. Dollar stehen Dollar-Verbindlichkeiten der TCMB gegenüber den Geschäftsbanken in Höhe von 55 Mrd. Dollar gegenüber. Die an­zutasten würde nur die Geschäftsbanken anfälliger machen. Und mit dem Rest wird die TCMB die Abwertungsspirale nicht über einen nennenswerten Zeitraum aufhalten können.

*) Ulrich Leuchtmann ist Leiter des Devisen-Research der Commerzbank.

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