Internetkonzern

Musterknabe Tencent bezieht schwere Prügel

Chinas Regulierungskampagne gegen heimische Tech-Konzerne hat der Tencent-Aktie einen schweren Schlag versetzt. Analysten halten jedoch einstimmig an ihren Kaufempfehlungen für den Titel fest.

Musterknabe Tencent bezieht schwere Prügel

Von Norbert Hellmann, Schanghai

Es gibt nur einige wenige chinesische Aktien, denen auch ausländische Investoren geradezu blind vertrauen und für die bei vielen Marktteilnehmern gilt: Egal zu welchem Zeitpunkt man einsteigt, im Prinzip kann man nie etwas falsch machen. Dazu gehören der E-Commerce-Riese Alibaba, der Edelschnapsbrenner Kweichow Moutai und der Internetkonzern Tencent. Sie haben in entsprechenden Musterportfolios ein Dauerplätzchen und stehen selbstredend auch in der Marktkapital-Hitparade chinesischer Unternehmen zuverlässig auf den ersten drei Rängen.

Nach ereignisreichen Sommerwochen auf Chinas Kapitalmärkten und einem regelrechten Blutbad für Technologieaktien müssen Anleger nüchtern feststellen, dass vielleicht nur noch der Schnaps bleibt, auf den sie sich bedingungslos verlassen können. Für Chinas Platzhirsche im Techsektor, Alibaba und Tencent, deutet sich erstmals überhaupt ein „annus horribilis“ mit strammen Kursverlusten und ungewissem Erholungspotenzial an.

Knüppelharte Regulierer

Auslöser für die Misere ist freilich Chinas monumentale Regulierungskampagne gegen Internet- und Technologiefirmen, die im Spektrum von E-Commerce, Fintech, Social Media, Mobilitätsdiensten, Essenslieferung, Livestreaming und Online-Bildung mit immer neuen Verordnungen, Strafandrohungen und Datenschutzauflagen konfrontiert werden. Alibaba hatte mit dem Verbot des Mega-Börsengangs ihrer Fintech-Schwester Ant Group im November und der anschließenden Verhängung einer Rekordstrafe über 2,8 Mrd. Dollar wegen unlauterer Marktpraktiken bereits früh ihr Fett abgekommen. Nun setzt die seit Juli enorm verschärfte Regulierungskampagne auch der lange als unantastbar geltenden Tencent-Aktie knüppelhart zu.

Binnen der vergangenen fünf Handelstage hat Tencent 13% eingebüßt und damit den zweiten großen Schock innerhalb eines Monats erlitten. In der letzten Juliwoche nämlich war der Titel sogar um 18% abgestürzt. Damit stehen die Anleger vor höchst ungewohnten Verhältnissen. Der Kurs ist am Donnerstag erneut um 3,5% abgeglitten und hat ein neues 52-Wochen-Tief bei 421 HK-Dollar erreicht. Wer der Tencent-Aktie Mitte Februar mit Zukäufen das Vertrauen geschenkt hatte, muss nun feststellen, dass exakt sechs Monate später ein Performanceschaden in Höhe von 45% vorliegt.

Langer Atem lohnt sich

In der bereits 17-jährigen Börsengeschichte des Techkonzerns hat es nur einen vergleichbaren Präzedenzfall gegeben, als Tencent zwischen Februar und Oktober 2018 im Zuge einer globalen Tech-Korrektur und einer vom Handelskrieg zwischen China und den USA kadenzierten chinesischen Börsenbaisse immerhin 36% verlor. Wer damals dem Techriesen die Stange hielt, wurde reich belohnt, denn von Oktober 2018 bis Februar 2021 schossen Tencent in einer Dauerrally um 185% von 260 auf 775 HK-Dollar in die Höhe.

Da Analysten trotz immer forscherer Kursziele der Entwicklung stets hinterherzuhecheln pflegten, ist es zur Norm geworden, den Investoren Tencent als Kaufgelegenheit anzupreisen oder zum Halten zu raten. Dabei muss man dem Tencent-Management zugutehalten, dass es sich einem Musterknaben gleich nie Fehlprognosen geleistet hat und den Wachstums- und Gewinnerwartungen stets nachzukommen wusste.

Inmitten des laufenden Börsentrubels hat Tencent zur Wochenmitte ihre Ergebnisse für das zweite Quartal vorgelegt und dabei alles andere als enttäuscht. Der Gewinn nach Steuern kletterte um gut 29% auf 42,6 Mrd. Yuan (rund 5,5 Mrd. Euro) und übertraf die bei gut 31 Mrd. Yuan eingependelte Konsensschätzung der Analysten deutlich.

Guter Riecher

Tencent konnte in den vergangenen Jahren im Kerngeschäft mit Onlinespielen und dem Social-Media-Ökosystem Wechat imposante Monetisierungserfolge verbuchen. Dabei baute der Konzern in Bereichen wie Fintech, Cloud Computing, Video- und Musikentertainment wuchtige zusätzliche Standbeine auf, die vergleichsweise hohe Margen abwerfen und noch kräftiges Wachstumspotenzial aufweisen. Man kann dem Tencent-Management also auch weiterhin einen guten Riecher für die Erschließung neuer Ertragsquellen attestieren. Zudem ist festzustellen, dass es Tencent zunehmend besser gelingt, ihre zahlreichen Internetdienste und Plattformen mit Einnahmen aus Onlinewerbung zu unterfüttern.

Chinas Tech-Regulierungskampagne hat dem Sentiment für heimische Sektorwerte einen schweren Schlag versetzt und den Platzhirsch Tencent keineswegs ausgespart. Dennoch sind die insgesamt fast 70 Wertpapierhäuser, die Tencent regelmäßig beobachten, durchweg optimistisch gestimmt, dass der Pekinger Feldzug letztlich kaum eine ernste Gefährdung für das Tencent-Geschäftsmodell darstellt und die langfristigen Ertragsperspektiven des Konzerns unterläuft. Es dürfte zwar noch einige Zeit dauern, bis sich die Rauchschwaden lichten und sich das Sentiment wieder aufhellt, aber fundamental wirkt die Tencent-Aktie gut abgestützt. Entsprechend findet sich auch kein einziger Analyst, der Tencent das Vertrauen entzieht.

Der Boden mag zwar noch nicht erreicht sein, aber die Chance zum „Buying on the Dip“ ist nach dem jüngsten heftigen Absturz allemal gegeben. Dies findet in praktisch einstimmigen Kaufempfehlungen und strammen Kurszielen seinen Niederschlag. Selbst die pessimistischsten Einschätzungen aus den Häusern Galaxy Securities, Citic Securities und UOB laufen noch auf einen Kursanstieg von 30% binnen Jahresfrist hinaus. Nimmt man den Mittelwert der Kursziele, landet man bei 675 HK-Dollar und damit 60% Kurspotenzial.

Kann es Tencent aber auch gelingen, wieder an das Allzeithoch bei 775 HK-Dollar anzuknüpfen? Bei Goldman Sachs, Alliance Bernstein und Morningstar wird auch diesbezüglich der Daumen hochgehalten. Mit Kurszielen zwischen 755 und 800 HK-Dollar trauen sie Tencent tatsächlich eine Wertsteigerung um bis 90% zu. Dies würde dann auch bedeuten, dass Tencents zuletzt auf 525 Mrd. Dollar geschrumpfte Marktkapitalisierung das Zeug dazu hat, in nicht allzu ferner Zukunft die Traumgrenze von 1 Bill. Dollar zu überspringen.

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