IM INTERVIEW: DAVID KOHL UND LUTZ WELGE, JULIUS BÄR

"Noch viel Geld an den Seitenlinien"

Institut für Aktien zuversichtlich - Beimischung von Hochzins- und Schwellenländeranleihen empfohlen

"Noch viel Geld an den Seitenlinien"

Die Bank Julius Bär ist überzeugt, dass Anleger in den kommenden Jahren mit Aktien gut fahren werden. David Kohl, Chefvolkswirt, und Lutz Welge, Leiter der Vermögensverwaltung des Schweizer Instituts, verweisen unter anderem auf anhaltend niedrige Zinsen und auf die Erwartung, dass sich die Wirtschaft vergleichsweise zügig erholen wird. Herr Welge, werden wir auch im kommenden Jahr an den Aktienmärkten Phasen extrem hoher Volatilität sehen wie in diesem?Wir hatten in der Tat in diesem Jahr extreme Schwankungen. Während des Kurseinbruchs bis Mitte März war die Intraday-Volatilität aufgrund des präzedenzlosen Charakters der Covid-19-Krise sogar teilweise etwas höher als in der Finanzkrise. Anschließend folgte eine starke Erholung der Märkte bis zum Juni. Jüngst sahen wir nach einem schwachen Oktoberverlauf den stärksten November seit 1962 an den Weltmärkten, getragen vom Wahlausgang in den USA und den Impfstofferfolgen. Der Markt schaut aktuell durch die ökonomischen Folgen der Pandemie hindurch, das heißt aber nicht, dass wir eine deutlich niedrige Volatilität bekommen. Die Schwankungen werden auch 2021 auf einem relativ hohen Niveau bleiben. Denn nach wie vor bestehen Unsicherheiten etwa um die Impfstoffthematik und die Handlungsmöglichkeiten des neuen US-Präsidenten Joe Biden. Allerdings beurteilen wir die Aussichten für die Aktienmärkte positiv. Es wird aber keine Einbahnstraße in 2021 werden. Herr Kohl, welche Risiken gehen von der wirtschaftlichen Entwicklung aus?Aus der Perspektive der Aktienmärkte ergeben sich einige Unsicherheiten, beispielsweise von der Pandemie ausgelöste strukturelle Veränderungen, die noch eingepreist werden müssen. Die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt macht uns für Aktien zuversichtlich. Das Wachstum ist tatsächlich nicht so stark eingebrochen, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Die Pandemie trifft die Beschäftigung stärker als die Wirtschaftsleistung. Die Sektoren, die wie die Hotellerie und die Gastronomie besonders stark unter der Pandemie leiden, sind zwar beschäftigungsintensiv, tragen aber nicht so stark zum Wachstum bei. Nach der Finanzkrise lagen wir nach drei Jahren noch mehr als 8 % unter dem Vorkrisentrend. Wir gehen davon aus, dass dieser permanente Verlust an Wirtschaftsleistung deutlich geringer ausfällt. Auch wird das Vorkrisenniveau dieses Mal relativ schneller wieder erreicht, weil Sektoren von der Pandemie betroffen sind, die nicht so stark zur Wirtschaftsleistung beitragen. Wie drückt sich das in Zahlen aus?Kohl: Auf die jetzt stark leidenden Branchen Gastronomie, Unterhaltung und Hotellerie entfallen rund 10 % der Beschäftigten, aber nur 4 % der Wirtschaftsleistung. Auf die von der Finanzkrise hart getroffene Finanzbranche entfielen seinerzeit nur 4 % der Beschäftigten, aber 10 % der Wirtschaftsleistung. Müssen Investoren nicht bedenken, dass Unternehmen beziehungsweise Strukturen derzeit am Leben erhalten werden, die nicht nachhaltig tragfähig sind?Welge: Der Börse fällt es leichter, Umbrüche umzusetzen, als dies in der Realwirtschaft geschieht, in der Unternehmen mit staatlicher Hilfe am Leben erhalten werden. Die starke Spreizung zwischen Gewinnern und Verlierern der Pandemie zeigt das deutlich. An den Aktienmärkten sehen wir somit die schöpferische Zerstörung im Sinne Schumpeters. Es gibt sogar innerhalb einzelner Branchen eine solche Differenzierung. Schauen Sie beispielsweise auf den Aktienkurs der Lufthansa mit Staatsbeteiligung. Dagegen trumpft Ryanair mit einem fokussierten Geschäftsmodell, einer starken Bilanz und einem Aktienkurs nahe dem Höchststand auf. Ist die sich abzeichnende Normalisierung beziehungsweise Erholung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft bereits am Aktienmarkt zumindest zu einem großen Teil vorweggenommen?Welge: Das ist in der Tat so. Nach dem starken Anstieg seit November brauchten wir eine Phase der Seitwärtskonsolidierung. Viele Marktteilnehmer, die den Markt im Oktober eher negativ betrachteten und sich short positioniert hatten, wurden von den positiven Impfstoffnachrichten auf dem falschen Fuß erwischt und mussten sich eindecken, was die Kurse stark getrieben hat. Es gibt aber noch viel Geld an den Seitenlinien. Die Cash-Berge bauen sich erst langsam ab, und wir erwarten, dass auch im nächsten Jahr Liquiditätsbestände in den Aktienmarkt umgeschichtet werden. Cash wird auch 2021 die Anlageform mit den geringsten Renditeaussichten sein. Hinzu kommen psychologische Elemente wie jüngst der Anstieg des Dow über 30 000. So etwas kann mittelfristig für weiteren Schwung sorgen. Höchstkurse bedeuten keineswegs, dass der Markt nicht weiter steigen kann. In der Vergangenheit haben solche Durchbrüche oft weitere Kurssteigerungen nach sich gezogen. Was sagen Sie zur Bewertungslage am Aktienmarkt, die manchen Sorgen bereitet?Welge: Es kommt auf die Betrachtungsweise an. Aktien sind im Vergleich mit anderen Assetklassen wie Anleihen und Immobilien vergleichsweise attraktiv und auch zumeist liquider. Absolut betrachtet sind Aktien fair bewertet, aber nicht mehr ausgesprochen günstig. Ich würde jedoch nicht so sehr auf die Historie schauen, da die Heuristiken aus der Vergangenheit für die Zukunftserwartungen nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Die Zinsen waren noch nie so niedrig wie derzeit, so dass vor diesem Hintergrund höhere Bewertungen am Aktienmarkt denkbar und auch vertretbar sind. Dies gilt besonders seit dem Frühjahr 2020, nachdem die US-Staatsanleihenrenditen im Zehnjahresbereich im Zuge der Covid-19-Pandemie nachhaltig tief notieren. Damit ist die größte Anlageklasse der Welt unerwartet praktisch vom Tisch genommen worden, und Investoren schauen nach Alternativen und wenden sich zunehmend auch den internationalen Aktienmärkten zu. Was sollen unter diesen Umständen an Anleiheinvestment gebundene Investoren tun?Welge: Anleihen haben für uns auch weiterhin eine Berechtigung im Portfoliomix. Besonders im institutionellen Bereich werden Anleihen zum Beispiel aus regulatorischen Gründen auch zukünftig gefragt sein. Traditionell sind Anleihen ein Buy-and-Hold-Investment. Grundsätzlich hat man jedoch als Bondinvestor in den klassischen Anleihebereichen heutzutage ein asymmetrisches Risiko, da der traditionelle Risikopuffer gegen zwischenzeitliche Kursrückgänge während der Laufzeit in Form des Kupons vielfach einfach nicht mehr existiert. Aufgrund dessen muss man im Anleihensegment aktuell deutlich taktischer, opportunistischer und damit kurzfristiger als in der Vergangenheit agieren, um noch eine positive Rendite zu erzielen. Wir raten daher auch dazu, selektiv Hochzinsanleihen und auf Hartwährung lautende Schwellenländeranleihen beizumischen. Wie halten Sie es mit chinesischen Anleihen?Welge: China ist für uns keine Beimischung mehr, sondern ein strategisches Investment, auch im Anleihenbereich. Chinesische Staatsanleihen bieten eine positive Rendite von rund 3 %. Außerdem ist das Währungsrisiko relativ gering. Die Währung wird staatlich gemanagt und hat mittelfristig außerdem ein gewisses Aufwertungspotenzial. Sollte China auch in wirtschaftlicher Hinsicht gesondert betrachtet werden?Kohl: Es macht auch aus volkswirtschaftlicher Sicht sehr viel Sinn, China von den übrigen Emerging Markets getrennt zu betrachten. Das Land hat die Pandemie besser gemanagt. Hinzu kommt die ökonomische Aufstellung. Es setzt sehr stark auf Zukunftsbranchen wie Digitalisierung, Emissionsreduzierung, künstliche Intelligenz, autonomes Fahren et cetera. Welches Gewicht wird China künftig an den Aktienmärkten haben?Welge: Derzeit beträgt die Gewichtung des chinesischen Aktienmarktes im MSCI World AC 5 %. Das entspricht auch nicht annähernd dem Anteil und der Bedeutung Chinas hinsichtlich der globalen Wirtschaftsleistung und wird sich im kommenden Jahrzehnt grundlegend ändern. Die zurückliegende Dekade war das Jahrzehnt der technologischen Führerschaft der USA, repräsentiert vor allem durch die großen FAANG-Aktien. In zehn Jahren wird man unter den größten Firmen der Welt nach Marktkapitalisierung mehr chinesische Unternehmen vorfinden als heute. Wir halten es für vorstellbar, dass sich das Gewicht Chinas im MSCI World AC in den nächsten zehn Jahren mehr als verdoppeln wird. Wir haben uns entsprechend positioniert und halten bereits jetzt deutlich mehr China, als die breiten globalen Leitindizes anzeigen. Wie geht es mit dem Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China weiter?Kohl: Die US-Bürger sind in fast allen Themen extrem polarisiert. Nur in einer Hinsicht herrscht Einigkeit: dass man China entgegentreten muss. Daran ändert auch ein Wahlausgang nichts. Bisher war der Konflikt auf den Handel fokussiert. Zuletzt kam der Kampf um die technologische Führung hinzu. Das Verhältnis beider Länder wird unruhig bleiben. Ein nicht zu unterschätzendes Risiko ist im Übrigen die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation. In dieser Hinsicht sind insbesondere Taiwan und das Südchinesische Meer zu erwähnen. Die Frage ist nun, wie stark das angespannte Verhältnis den Markt beeinflussen kann. Betrifft es Unternehmen? Über die Zölle hat es negative Folgen für Unternehmen. Einen Zollabbau wird es wahrscheinlich nicht geben. Auch gibt es seitens China keinerlei Anzeichen, in Sachen Rechte ausländischer Unternehmen nachzugeben, ein Thema, das auch Europa betrifft. Auch der Technologiestreit betrifft Europa, wie die Forderung der Vereinigten Staaten, Huawei beim 5G-Ausbau auszuschließen. Welche Risiken gehen Ihrer Einschätzung nach davon aus?Kohl: Es bilden sich zwei Technologieökosysteme heraus, ein amerikanisches und ein chinesisches. Der Druck steigt, dass die Länder im Rest der Welt sich zwischen den Systemen entscheiden müssen. Das kann Geschäftsmodellen einzelner Unternehmen durchaus schwer zusetzen. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass wir uns in der kommenden Dekade in einer bipolaren Welt befinden. Was bedeutet das für Investoren?Welge: Die Bipolarität zwischen den Blöcken USA und China könnte dazu führen, dass man wieder besser diversifizieren kann. Im zurückliegenden Jahrzehnt gab es kaum große Diversifikationsmöglichkeiten: Um mit seinen Investitionen den höchsten Erfolg zu erzielen, musste man sich als Anleger auf amerikanische Technologieaktien konzentrieren. Wie sollten sich Anleger jenseits der Überwindung der Pandemie längerfristig positionieren?Welge: Wir denken, dass wir uns in den nächsten Jahren weiter in einem Umfeld finanzieller Repression mit dauerhaft niedrigen Zinsen bewegen werden. Aktien haben vor diesem Hintergrund mittelfristig noch Aufwärtspotenzial. Es wird aber immer wieder Rückschläge geben. Anleger müssen resilient bleiben und bei Rücksetzern, deren Gründe jetzt noch nicht absehbar sind, weiter in Sachwerte investieren. Aktienmarktkorrekturen werden in den nächsten Jahren somit weiterhin Kaufgelegenheiten sein. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.