Ölmarkt

Rekord-Backwardation lässt Ölpreis wenig Luft

Der Preis für Rohöl stieg seit Dezember von 65 auf 95 US-Dollar. Der Ukraine-Konflikt sowie eine erhöhte Nachfrage als Folge des erhofften Endes der Pandemie gelten als Gründe hierfür.

Rekord-Backwardation lässt Ölpreis wenig Luft

Von Robert Rethfeld*)

Der Preis für Rohöl stieg seit Dezember von 65 auf 95 US-Dollar. Der Ukraine-Konflikt und eine erhöhte Nachfrage als Folge des erhofften Endes der Pandemie gelten als Gründe für diesen Anstieg. Die Opec-Staaten haben aufgrund des kaum ansteigenden Angebots an Erdöl in den USA an Marktmacht bei der Preisgestaltung gewonnen. Sie dürften als Kompensation für die lange Phase sehr niedriger Preise im Jahr 2020 einen höheren Preis für einen längeren Zeitraum erreichen wollen.

Die 100-Dollar-Marke erscheint bald erreicht. Sie stellt einen signifikanten Widerstand dar. Im Zeit-raum 2011 bis 2013 bewegte sich Rohöl der Sorte WTI Crude um diese Marke. Nur im Frühjahr/Sommer 2008 wurde die 100-Dollar-Marke sechs Monate am Stück überwunden. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass deutliche Ölpreisanstiege innerhalb eines kurzen Zeitraums negativ auf die Konsumstimmung wirken, so dass jeweils Rezessionen folgten (1974, 1980, 1990, 2000 und 2008).

Analysten sprechen aktuell von einem Backwardation-Superzyklus. Selten waren derart viele Rohstoffe gleichzeitig so knapp wie jetzt. Der Terminmarkt zeigt dies an. Die dort gehandelten nahen Kontrakte sind deutlich teurer als die entfernten Kontrakte. Beispielsweise kostet der nahe WTI-Crude-März-Kontrakt 91,40 US-Dollar, während WTI Crude mit Lieferung im November für 81 US-Dollar zu haben ist.

Ausdruck der Knappheit

Dieses „Backwardation“ genannte Phänomen ist Ausdruck einer Knappheit, die mehr als ein Jahr anhält. Auch Kupfer, Aluminium, Nickel, Weizen, Mais, Sojabohnen und Zucker befinden sich in diesem Zustand. Im Normalfall sind die entfernteren Futures-Preise nicht zuletzt aufgrund der Lagerkosten teurer als die nahegelegenen Fu­tures. Diese Normal-Situation wird als „Contango“ bezeichnet.

Der Chart zeigt das Wechselspiel von Contango und Backwardation seit dem Jahr 2008. Als Maßstab verwenden wir die Differenz zwischen Kontrakt 1 und Kontrakt 4. Kontrakt 1 ist immer der nächstgelegene und gleichzeitig der aktivste gehandelte Kontrakt. In den Medien wird auf diesen Preis verwiesen. Kontrakt 4 befindet sich drei Monate von Kontrakt 1 entfernt. Ist der nächste Kontrakt der März-Kontrakt, dann bezeichnet Kontrakt 4 den Juni-Kontrakt. Die Auswahl der Distanz zwischen dem nahegelegenen und einem ent­fernteren Kontrakt kann grundsätzlich beliebig sein. Allerdings hat sich herausgestellt, dass die Auswahl einer Differenz von drei Monaten Ergebnisse erbringt, mit denen interessante Aussagen zum Marktverhalten getroffen werden können.

Kurz bevor WTI Crude sein All-zeithoch von 147 US-Dollar im Juli 2008 erzielte, betrug die Backwardation 3,50 US-Dollar. Immer dann, wenn die Differenz zwischen Kontrakt 4 und Kontrakt 1 in der Folge dieses Niveau überschritt, näherte sich WTI Crude seinem Verlaufshoch. Am 14. Februar betrug die Differenz 5,90 US-Dollar. Ein derart hoher Wert wurde nur Mitte 2018 mit 6,00 US-Dollar übertroffen. Mit anderen Worten: Die Backwardation zeigt ein selten gezeigtes Ausmaß. In der Vergangenheit führten derart hohe Spannen zu Hochpunkten im Rohölpreis. Saisonal steigt der Ölpreis üblicherweise bis in den Juli, teilweise auch bis in den Oktober hinein, bevor er im vierten Quartal zur Schwäche neigt.

Einfluss auf Bidens Chancen

Am 8. November 2022 finden Wahlen zum US-Kongress statt. Gewählt werden alle 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses und 34 der 100 Senatoren im Senat. Die Zustimmungswerte des amerikanischen Präsidenten Joe Biden befinden sich auf einem niedrigen Niveau. Analysten machen die hohe Inflationsrate der Vereinigten Staaten von 7,5% als ein Hauptgrund für diese Unzufriedenheit aus. Auch der chaotisch vollzogene Abzug aus Afghanistan war nicht hilfreich. Bidens Handhabung des Ukraine-Konflikts sowie die Inflationsbekämpfung werden einen entscheidenden Einfluss auf die Chancen der Demokratischen Partei im Herbst haben. Vor diesem Hintergrund ist die Taktik der „Kommunikationsoffensive“ interessant sowie das Bemühen Bidens, die kommunikative Hoheit über die Umstände eines möglichen Kriegsgrunds zu behalten.

Kriege waren stets ein Inflationstreiber. Die USA erlebten sie dramatisch im US-Sezessionskrieg von 1861 bis 1865. Im Zweiten Welt-krieg wurden Zinsen und Rohstoffpreise gedeckelt, um die Produktion von Kriegsgütern zu unterstützen. die US-Regierung wird im Hinblick auf die Wahlen im November versuchen, die Inflation einzubremsen. Der Hebel der Zinserhöhungen läuft über die Fed, ein weiterer dürften Gespräche mit der Opec sein sowie – falls notwendig – die Öffnung der eigenen strategischen Ölreserve.

Der Index der Öl-Service-Firmen (Ölbohrausrüstungen, Produktion, logistische Unterstützung, Wartung) steigt genauso wie „Big Oil“. Von dieser Seite kommt noch kein Signal für ein Ölpreishoch. Vorstellbar ist ein schneller Anstieg über die 100-Dollar-Marke im Kriegsfall, gefolgt von einem deutlichen Rückgang im Spätsommer. Bleibt der Einmarsch Russlands in die Ukraine aus, so sollte WTI Crude angesichts der hohen Backwardation Mühe haben die Marke von 100 Dollar zu überschreiten.

*) Robert Rethfeld ist Herausgeber des handelstäglichen Börsenbriefs Wellenreiter-Invest.