Gastbeitrag zur Umweltpolitik

Die „Unknown Unknowns“ der Energiewende

Die beschleunigte Energiewende, wie sie in diesen Tagen hoch auf der Agenda der Bundesregierung steht, erfordert massive Investitionen in die Energieinfrastruktur.

Die „Unknown Unknowns“ der Energiewende

Die beschleunigte Energiewende, wie sie in diesen Tagen hoch auf der Agenda der Bundesregierung steht, erfordert massive Investitionen in die Energieinfrastruktur. Zwei für die Energiewende zentrale Sektoren sind Strom und Transport. Sie machen zusammen etwas mehr als die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen aus. Im Stromsektor muss der Übergang zu erneuerbaren Energieträgern wie Wind und Sonne erreicht werden; in anderen Bereichen wie dem Transportsektor müssen die bislang dominierenden fossilen Energieträger durch sauberen Strom ersetzt werden.

Deep Uncertainty

Häufig wird beklagt, dass die Energiewende langsamer vorangeht, als dies wünschenswert wäre, die Investitionen zu gering seien. Ein in diesem Zusammenhang bislang selten diskutierter Aspekt: Die Energiewende erzeugt systematisch und häufig Situationen mit einer fundamentalen Form von Unsicherheit, die Investitionen erschwert und verlangsamt. Was bedeutet fundamentale Unsicherheit oder „deep uncertainty“? Im Allgemeinen versteht man unter diesem Begriff eine Situation, in der Unsicherheit besteht und keine sinnvolle Annahme über Wahrscheinlichkeitsverteilungen zur Beschreibung jener Unsicherheit gemacht werden kann. Oft ist es nicht einmal möglich, die potenziellen Alternativen angemessen zu beschreiben, weil sie im wörtlichen Sinne unvorhergesehen sind. Extreme Beispiele könnten der Ausbruch einer Pandemie oder eines Krieges sein, sogenannte „Black Swan events“. Aber auch technologischen Entwicklungen oder dem Klimawandel gehen typischerweise Situationen voraus, die von „deep uncertainty“ geprägt sind.

Analysen zeigen, dass im Zusammenhang mit Energiewenden diese fundamentale Unsicherheit systematisch entsteht. Wesentliche Treiber sind die hohe wechselseitige Abhängigkeit und Anzahl der sich wandelnden Teilsysteme sowie die Spanne der relevanten Zeiträume. Diese führen oft zu einer fundamentalen Unsicherheit über die technologischen, sozialen, politischen und regulatorischen Entwicklungen und stellen damit eine enorme Herausforderung für die Akteure in der Energiewende dar.

Drei Beispiele

Diese Herausforderung wollen wir an drei Beispielen verdeutlichen: Den ersten Fall bietet das Kohlekraftwerk „Datteln 4“, das stellvertretend für eine Technologie steht, die im Rahmen der Energiewende ausläuft. Das zweite Beispiel betrachtet den Ausbau von Offshore-Windenergie und damit eine der wichtigen und wachsenden Technologien im Strukturwandel hin zur CO2-freien Wirtschaft. Im dritten Beispiel betrachten wir die Konkurrenz zwischen batteriegetriebener Elektromobilität und der Brennstoffzelle, zwei zentrale Technologien auf dem Weg zur Klimaneutralität.

Datteln 4 ist ein erst im Jahr 2020 in Betrieb gegangenes Kohlekraftwerk. Der Betriebsstart des Kraftwerks war ursprünglich für 2011 vorgesehen, jedoch wurde der Bau durch bis heute anhaltende Rechtsstreitigkeiten und technische Probleme, erheblich verzögert.

Gegen den Makrotrend

Anfang 2019 legten die Schlussfolgerungen der „Kohlekommission“ nahe, im Rahmen eines Kohleausstiegs bis 2038 eine „Verhandlungslösung“ mit den Besitzern von im Bau befindlichen Kohlekraftwerken zu suchen, um die Inbetriebnahme zu vermeiden. Obwohl zu diesem Zeitpunkt Datteln 4 das einzige im Bau befindliche Kohlekraftwerk war und obwohl der Betreiber Uniper Offenheit gegenüber Verhandlungen er­klärte, sofern sie fair seien, genehmigte die Bundesregierung – entgegen dem Rat der Kohlekommission – den kommerziellen Betrieb des Kraftwerks. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung im Jahr 2021 schlägt nun vor, den Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Das käme einer wesentlichen Verkürzung der wirtschaftlichen Lebensdauer des Kraftwerks gleich und würde es erschweren, die Investitionen in der Größenordnung von 1 Mrd. Euro einzuspielen.

Versetzt man sich in den Zeitpunkt der Investitionsentscheidung um das Jahr 2006 zurück, so war bereits damals eine klare politische Bewegung weg von kohlebasierter Stromerzeugung sichtbar. Auch der Uniper-Vorgänger Eon erklärte in diesem Zusammenhang, man habe kein Problem damit, falls dieses Kraftwerk das letzte seiner Art sei. Während es also offensichtlich eine Entscheidung gegen einen energiewirtschaftlichen Makrotrend war, so legt die Ge­schichte des Kraftwerks nahe, dass es unangebracht ist, hier – insbesondere mit Blick auf den Kohleausstieg – mit wahrscheinlichkeitsbasierten Prognosen zu arbeiten. Die Strategie von Eon in diesem Zusammenhang erschien eher, eine Übereinstimmung mit den lokalen Behörden zu erzielen und dann die Errichtung des Kraftwerks so früh wie möglich zu erreichen, um schließlich als eines der modernsten Kohlekraftwerke vergleichsweise konkurrenzlos eine stabile und hohe Nachfrage zu bedienen. Auf diese Weise konnte die Strommarkt-Unsicherheit reduziert werden. Der „deep uncertainty“ in Bezug auf den politischen und energiewirtschaftlichen Trend zum Kohleausstieg wurde begegnet, indem man sich an langfristig glaubhaft stabilen Institutionen orientierte: der deutschen Verwaltung und der politischen Priorität eines stabilen und verlässlichen Investitionsumfeldes – dem gegen die Kohlenutzung laufenden Makrotrend und den zahlreichen Protesten und Gerichtsverfahren zum Trotz.

Das Beispiel des Ausbaus von Offshore-Windenergieanlagen ist ein wenig anders gelagert. Hier handelt es sich um eine vergleichsweise junge Technologie, deren Ausbau dringend notwendig ist, um die Emissionsneutralität bis 2045 zu erreichen. Zwar haben Bau und Finanzierung von Windkraftanlagen eine lange Historie, jedoch erzeugt gerade die neue Lage – offshore – besondere Herausforderungen. Genauere Un­tersuchungen zeigen, wie sehr das raue maritime Umfeld „deep uncertainty“ erzeugt, insbesondere da­durch, dass in den komplexen Projektstrukturen zahlreiche kleinere unerwartete Ereignisse zusammenwirken und zu massiven Problemen und Verzögerungen führen können.

Betrachten wir Borkum West II: Ein Offshore-Windpark mit einem geplanten Investitionsvolumen von circa 800 Mill. Euro in der Nordsee. Der für eineinhalb Jahre geplante Bau wurde von der unerwarteten Insolvenz des Turbinenherstellers Senvion geprägt, nachdem etwa die Hälfte der Turbinen installiert waren. Bei der Verzögerung ging es nicht allein um die verspäteten Produktionseinnahmen, sondern auch um die Gefahr, dass die gesetzlich garantierte Einspeisevergütung bei Betriebsbeginn nach dem 1. Januar 2020 sinken würde. Als der Windpark schließlich in Betrieb ging, wurde der Verlust aufgrund der verringerten Einspeisevergütung auf grob 60 Mill. Euro geschätzt. Diskussionen mit der Bundesregierung trugen zwar dazu bei, ein Gesetz zu schaffen, welches in vergleichbaren Fällen künftig vor dem sinkenden Tarif schützt, es entfaltete jedoch seine Wirkung erst 2021, zu spät für Borkum West II. Der Projektentwickler und wichtigster Anteilseigner des Projektes (EWE) erklärte daraufhin zunächst seinen Abschied vom Engagement in Offshore-Wind.

Ein weiteres markantes Beispiel ist der Windpark Bard Offshore I: Er ging drei Jahre nach Plan und 90% über dem vorgesehenen Budget ans Netz. Bemerkenswert an diesem Fall ist zum einen die Vielfalt der unerwarteten Verzögerungen durch Probleme mit der Netzanbindung, einen Schwelbrand, schwere Arbeitsunfälle, Rückzug von Investoren und verschiedene andere technische Probleme, wie eine Neukonstruktion der Turbinen in der Mitte des Projekts.

Probleme bringen Innovation

Dieses Beispiel verdeutlich sehr gut, wie wichtig es ist zu verstehen, dass die Bewältigung von Problemen nicht allein massive Kosten erzeugt hat, sondern auch entscheidender Innovationstreiber für die Offshore-Windindustrie war: Es wurden neuartige 5-MW-Turbinen entwickelt, und diese wurden auf neuartigen Triple-Fundamenten (leichter, stabiler, einfachere Installation) eingesetzt, die ebenfalls im Rahmen des Projektes entwickelt wurden. In dem Zu­sammenhang wurde auch ein Schiff zur Turbineninstallation entwickelt, welches vor Ort am Seeboden stabilisiert wird und Lasten relativ unabhängig vom Seegang etwa 100 m über die Meeresoberfläche heben kann. Trotz all dieser Beiträge zur Innovation führten die Zusatzkosten und Verzögerungen zur Insolvenz des Windparks im Jahre 2013, im Jahr des Betriebsstarts. Er wurde von anderen Investoren übernommen, gehört heute Macquarie und war 2017 der produktivste Windpark in Deutschland.

Es lässt sich erkennen, dass aus Sicht der ursprünglich handelnden Akteure die fundamentale Unsicherheit zu schweren Problemen und Insolvenzen geführt hat. Es zeigt sich jedoch ebenfalls, dass viele der Kosten mitunter eine breitere Innovationswirkung haben, welche die einzelnen Akteure oft nicht für deren Einsatz entschädigt.

Konkurrenz zulassen

Als letztes Beispiel werfen wir einen Blick auf die Transformation des Automobilsektors. Hier ist die Quelle für „deep uncertainty“ nicht allein, dass es sich um junge Technologien handelt, sondern zusätzlich, dass es sich um zwei Technologie-Alternativen handelt, die beide Nachfolger des Verbrennungsmotors werden könnten. Die beiden alternativen Antriebe sind das batterieelektrisch betriebene Fahrzeug und das mit Wasserstoff-Brennstoffzelle betriebene Elektrofahrzeug. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht in diesem Fall darin, dass beide Technologien erhebliche F&E-Investitionen sowie auch begleitende Lade- oder Tank-Infrastrukturen erfordern.

Als die EU die Beschleunigung der Energiewende im Automobilsektor diskutierte, versuchten die Marktakteure der aufkommenden Regulierung durch eine Selbstverpflichtung im Jahre 1998 zu entgehen. In dieser freiwilligen Selbstverpflichtung zwischen der EU und dem Europäischen Verband der Automobilhersteller verpflichten sich Letztere, die CO2-Emissionen von neu zugelassenen Autos bis 2008 auf 140 g pro Kilometer zu senken.

Wie haben die deutschen Hersteller auf diese Herausforderung reagiert? Die Abbildung zeigt das Ergebnis einer Analyse der Jahresberichte von VW, Daimler und BMW: Für die Jahre von 1995 bis 2019 ist gezeigt, wie häufig bestimmte Wörter, wie etwa „hydrogen“, „fuel cell“ oder „battery“ erscheinen. Die Grafik deutet an, dass typischerweise zu­nächst die wasserstoffbasierte Alternative in den Diskussionen im Jahresbericht auftauchte. Erst zu der Zeit, als sich abzeichnete, dass die Ziele für das Jahr 2008 der freiwilligen Selbstverpflichtung verfehlt werden, stieg die Diskussion um die beiden Alternativen im Jahresbericht deutlich an und mit ihr die Diskussion um batteriebetriebene Fahrzeuge und überholte in gewisser Weise die Wasserstofftechnologie.

Diese Illustration ist konsistent mit der Ansicht, dass hier die Ambiguität als Teil der „deep uncertainty“ die Entwicklung der batterieelektrischen Fahrzeuge zumindest verzögert hat. Aus Sicht eines Automobilherstellers war und ist eine fundierte Bestimmung von Wahrscheinlichkeiten schwierig. Nicht allein aufgrund der technologischen Unsicherheiten, sondern auch beispielsweise wegen der schwer absehbaren Anforderungen an die etablierten und komplexen Lieferketten.

Hier könnte man nun einwenden, dass eine frühzeitige Festlegung der Politik auf eine der beiden Alternativen solche Ablenkungen hätte verhindern können. Allerdings steht eine solche Einschätzung im Gegensatz zur weitgehend wissenschaftlich etablierten Erkenntnis, dass der Staat im Allgemeinen nicht gut beraten ist, bei konkurrierenden jungen Technologien den Gewinner vorab auszuwählen. Dies ist in der Vergangenheit häufig fehlgeschlagen. Vielmehr unterstützt die Wissenschaft den Ansatz der technologieoffenen Förderung. Ein aktuelles Beispiel sind die erheblichen parallelen Subventionen für verschiedene Impfstoffe im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie, in dem Wissen, dass die übergroße Mehrheit der Ansätze scheitern wird. Während die Konsequenzen für den Staat hier recht eindeutig sind, hilft das aus der Sicht des einzelnen Investors oder Marktakteurs weniger, unter anderem gerade weil der einzelne Hersteller nicht unbedingt der Nutznießer einer ungeplanten Innovation sein wird.

Planungssicherheit notwendig

Die angeführten drei Beispiele aus dem Energie- und Transportsektor zeigen, dass „deep uncertainty“ als Herausforderung für die Energiewende ernster genommen werden muss, da diese spezielle Form der Unsicherheit die notwendige Transformation und den verbundenen technologischen Fortschritt verzögern und Akteure sogar abschrecken kann.

Drei Aspekte sind insbesondere beachtenswert: Unterschätzt wird womöglich die zentrale Rolle eines „credible commitment“, einer in sich glaubhaften Festlegung auf ein bestimmtes politisches Ziel, wobei hier die Festlegung nicht allein verbal erfolgen kann, sondern glaubhaft in dem Sinne, dass eine Abweichung für den sich Festlegenden mit deutlichen Kosten verbunden sein muss. Ein solche glaubwürdige Zusicherung kann helfen, viele untergeordnete Unsicherheiten abzufedern, „deep uncertainty“ zu reduzieren.

Der Perspektive eines einzelnen Marktakteurs gerecht zu werden ist eine zusätzliche Herausforderung. Auch hier gibt es Ansätze – wie etwa die sogenannten Differenzkontrakte, die für einzelne Teilnehmer einen für einen definierten Zeithorizont konstant hohen CO2-Preis simulieren und somit einen Teil der Unsicherheit auf individueller Ebene reduzieren können.

Breit gefächert fördern

Darüber hinaus hat die Energiewende viele Bereiche, in denen Innovation gefragt ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, erstens die Unwägbarkeiten des technischen Fortschritts zu respektieren und zweitens den gesellschaftlichen Nutzen der ungeplanten Erkenntnisse im Blick zu halten. Letzterer würde beispielsweise bedeuten, dass ein Automobilunternehmen, welches voll-ständig auf die Wasserstofftechnologie setzt, wichtige Erkenntnisse er­zeugt, unabhängig davon, ob sich diese Technologie letztlich in erwarteter Weise durchsetzt. Unter Um­ständen nutzen diese wichtigen Erkenntnisse jedoch nicht dem Erfinder, sondern Firmen, die in anderen Märkten aktiv sind. Beides spricht für eine breite und großzügige technologieoffene Technologieförderung in Situationen von „deep uncertainty“.

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