Staatsführung

Der Leithammel als Wirtschafts­risiko für China

Chinas Wirtschaftsgeschicke unterliegen einem erhöhten Ein-Mann-Risiko, das die Märkte verstört.

Der Leithammel als Wirtschafts­risiko für China

Ein Zugunglück, das man eindeutig kommen sieht, kann kaum als negative Überraschung bezeichnet werden. Dennoch folgt die große Schreckensreaktion erst dann, wenn das rettende Wunder ausgeblieben und der Schaden tatsächlich angerichtet ist. So in etwa kann man das Sentiment an Chinas Finanzmärkten im Nachgang zum Pekinger Parteikongress beschreiben. Der nun mit ewigem Führungsanspruch ausgestattete Staats- und Parteichef Xi Jinping hat sämtliche relevanten Posten auf Ebene des Politbüros und Zentralkomitees der Partei nicht nach Kompetenz- sondern Loyalitätskriterien vergeben. Daraus ergibt sich für die neue fünfjährige Regierungsperiode ab März zwangsläufig eine Postenverteilung in sämtlichen Organen vom Staatsrat über die Ministerien bis zur Zentralbank, in der politischer Gehorsam und garantierter Verzicht auf eine kritische Auseinandersetzung mit Problemen den Ausschlag geben.

Was die Märkte von der nun absolut wasserdichten parteipolitischen Kontrolle über sämtliche Facetten der Wirtschaftssteuerung halten, hat man zu Wochenbeginn gesehen, als die von internationalen Investoren frequentierte Hongkonger Börse einen historischen Einbruch erlebte. Es ging nicht um eine negative Überraschung, sondern um den nun eingetretenen Schaden, dass in China die unter Xi bereits stark aufgeweichte Separierung von ideologischen Parteibelangen und pragmatischer Regierungstätigkeit sowie Wirtschaftslenkung nun völlig verschwindet.

Bei der Bewertung von Unternehmen und den Gefahrenquellen für ihre künftige Entwicklung spricht man vom „Key Man Risk“, wenn sich besondere Machtfülle auf eine einzige Person beschränkt. Einerseits geht es um die Gefahr, dass der Alleinherrscher keine Delegationsstrukturen und Nachfolgeregelungen schafft, die im Krankheits- oder Unglücksfall eine reibungslose Fortführung der Geschäfte ermöglichen. Andererseits sieht man das Risiko, dass es keinerlei Korrekturmöglichkeiten gibt, wenn der Leithammel einen falschen Weg einschlägt, der die Herde ins Verderben zu reißen droht. In China ist nun beides der Fall.

Die neue Führungsaufstellung lässt bewusst nicht die Spur einer Nachfolgeregelung erkennen und zudem völlig offen, wer hinter Xi überhaupt etwas zu sagen hat, das über die Kommunikation und Huldigung seines Willens hinausgeht und eine eigene Handschrift trägt. Die Möglichkeit zu einem Eingeständnis von Fehlentwicklungen und einer möglichen Korrektur derselben wird nun quasi institutionell verhindert. Bislang konnte man Premierminister Li Keqiang trotz immer weitergehender Entmachtung in den vergangenen fünf Jahren zumindest ansatzweise noch als eine Persönlichkeit ansehen, die kraft unbestrittener Kompetenzen und der Stellung als Regierungschef einen korrigierenden Einfluss ausübt.

Unvergessen sind die Szenen im Frühjahr, als der von ganz oben angeordnete harte Lockdown in Schanghai zu landesweiter konjunktureller Verwüstung und praktisch völliger Wachstumsvernichtung führte. Li versuchte die Provinzverwaltungen zu konjunkturellen Rettungsmaßnahmen zu mobilisieren und eine allzu rigide Umsetzung von Corona-Restriktionen zu verhindern. Das hat ihm einige Bewunderung eingebracht und Hoffnungen geweckt, dass das Gebot der Corona-Nulltoleranz wirtschaftsverträglicher ausgelegt werden kann.

Allein die Wahrnehmung aber, dass dem Premier durch die Korrektur unsinniger Entscheidungen als potenziellem Wirtschaftsretter Sympathie zufliegt, hat sein Schicksal besiegelt. Im März wird er vom Schanghaier Provinzchef Li Qiang abgelöst, also genau jenem Mann, der den Lockdown der chinesischen Wirtschaftskapitale in aller unangemessenen Härte und zeitlichen Ausdehnung durchführen ließ. Mit dem Lockdown in Schanghai hat der für Nibelungentreue zu Xi bekannte Li seine Feuertaufe bestanden und als neue Nummer zwei in der Parteihierarchie das Ticket für die Premierministerrolle erhalten.

Es dauert noch fast ein halbes Jahr, bis Li Qiang in die Verantwortung als Regierungschef und damit auf dem Papier oberster Wirtschaftsverantwortlicher treten wird. Niemand sollte ihm die Fähigkeit absprechen, in dieser Rolle einen guten Job zu machen, zumal er vor dem Lockdown Chinas wichtigstem und internationalstem Investitionsstandort Schanghai alles andere als Schande angetan hat. Geholt wurde er aber nicht für Kompetenzen im Umgang mit der Privatwirtschaft, sondern für bedingungslosen Gehorsam. Chinas „Key Man Risk“ verschärft sich dadurch nur weiter.

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