EU-Ratspräsidentschaft

„Gewaltige“ Aufgaben für Schweden

Während ihrer EU-Ratspräsidentschaft will die schwedische Regierung Akzente bei Wettbewerbsfähigkeit, Klima- und Energiewende setzen. Auch in Sachen Staatsfinanzen und Kapitalmarktunion warten große Aufgaben.

„Gewaltige“ Aufgaben für Schweden

Von Stefan Reccius, Brüssel

Mit einer zweitägigen Reise an den Polarkreis stimmt sich die EU-Kommission in der zweiten Januarwoche auf die schwedische Ratspräsidentschaft ein. Im ersten Halbjahr leiten die Skandinavier die Tagesgeschäfte der EU-Staaten in Brüssel – und diese Aufgabe hat für sie gleich mit einem ungewollten Realitätstest begonnen: Anfang Januar mussten sie den Krisenstab der Europäischen Union einberufen, um Auflagen für Reisen aus China abzustimmen.

Mit dem Jahreswechsel hat die Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson – erst wenige Monate im Amt – die Ratspräsidentschaft von Tschechien übernommen. Eigentlich will sie im ersten Halbjahr ganz andere Akzente setzen: Während ihr im Schatten des Ukraine-Kriegs das Thema Sicherheit am dringlichsten ist, legt sie ihr Augenmerk auf Wettbewerbsfähigkeit sowie Klima- und Energiewende. Und dabei kann sie auf fleißige Vorarbeit ihrer Kollegen in Prag setzen.

Die tschechische Regierung hat so manches Lob geerntet. Sie habe „auf der Zielgerade bemerkenswerte Verhandlungsergebnisse“ erreicht, findet Bernd Hüttemann, Generalsekretär des Vereins Europäische Bewegung Deutschland (EBD). Dennoch liegt ein Haufen unerledigter Aufgaben vor den Schweden: „Trotz aller Fortschritte unter Tschechiens Vorsitz sind die Aufgaben noch immer gewaltig“. Ein Überblick:

Wettbewerb

„Die EU muss weiterhin die bestmöglichen Bedingungen für eine gesunde und offene Wirtschaft schaffen, die auf freiem Wettbewerb, privaten Investitionen und erfolgreicher Digitalisierung basiert“: So steht es im Programm der schwedischen Ratspräsidentschaft. Fortgeschritten sind die Arbeiten am Chips Act, einem 43 Mrd. Euro schweren Förderprogramm. Gedacht ist es als europäisches Pendant zu einer Halbleiteroffensive der US-Regierung. Anfang Dezember haben sich die EU-Staaten – noch unter tschechischem Vorsitz – einstimmig zum Vorschlag der EU-Kom­mission positioniert. Das Parlament wird bald folgen. In den Schlussverhandlungen dürfte es vor allem um die Finanzierung gehen.

Fieberhaft nach Antworten sucht man in Brüssel noch auf ein vielfach größeres und umfassenderes US-Sub­ventionspaket, den Inflation Re­duction Act. Die EU-Kommission will dafür die Beihilferegeln lockern. Dafür machen sich auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und sein französischer Kollege Bruno Le Maire stark. Die neue Industriestrategie, die Sorgen vor einem transatlantischen Subventionswettlauf schürt, wird dem Vernehmen nach Thema eines für den 9. und 10. Februar anberaumten Sondergipfels der Staats- und Regierungschefs sein.

EU-weites Lieferkettengesetz

Für reichlich Gesprächsstoff wird auch das geplante EU-weite Lieferkettengesetz sorgen. Hierzulande müssen große Unternehmen seit 1. Ja­nuar Sorge tragen, dass ihre Zulieferer grundlegende Menschenrechte im Umgang mit ihren Mitarbeitern wahren. Über die Bestrebungen auf EU-Ebe­ne im Vergleich zum nationalen Lieferkettengesetz sagt Thomas Grützner, Partner der Kanzlei Latham & Watkins: „Als roter Faden kristallisiert sich bereits heraus, dass mehr Unternehmen betroffen sein werden, unabhängig von ihrer Branche und Mitarbeiterzahl“.

Allerdings lässt sich absehen, dass EU-Kommission, Mitgliedstaaten und Parlament sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Umfang europaweiter Sorgfaltspflichten haben. Die EU-Staaten haben sich zwar in groben Linien über eine Verhandlungslinie verständigt, aber bestimmte Streitpunkte ausgeklammert. Das EU-Parlament wird sich nach Lage der Dinge bis Mai Zeit nehmen. „Ich würde nicht darauf setzen, dass die Richtlinie in diesem Jahr zum Abschluss kommt“, erwartet Grützner. „Erfahrungsgemäß bekommen die Mitgliedstaaten anschließend weitere ein bis zwei Jahre zur Umsetzung.“ Dann werde die Bundesregierung das nationale Lieferkettengesetz wohl nachschärfen müssen.

Energie

Wegen der Energiekrise arbeiten die EU-Gesetzgeber mit Hochdruck an einer grundlegenden Reform des Strommarktes. Kernelement ist der Abschied vom sogenannten Merit-Order-Prinzip, wonach sich die europäischen Strompreise am teuersten Kraftwerk im Markt bemessen. Wegen der wilden Preissauschläge am Gasmarkt infolge des Kriegs in der Ukraine hat sich auch Strom sprunghaft verteuert. Für Wirtschaftsverbände steht die Existenz energieintensiver Industrien in der EU auf dem Spiel. Der Reformvorschlag der EU-Kommission soll voraussichtlich im März kommen.

Staatsfinanzen

Um die Nöte von Verbrauchern und Unternehmen mit Milliardenhilfen zu kontern, kommt den EU-Staaten gelegen, dass die zentralen Haushalts- und Schuldenregeln seit der Pandemie ausgesetzt sind. Auch dieses Jahr greift auf Betreiben der EU-Kom­mission die sogenannte Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Damit soll nach dem Willen der Schweden Schluss sein: Sie wollen, dass die Haushalts- und Schuldenregeln ab 2024 wieder vollumfänglich greifen.

Diese Marschroute dürfte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gefallen. Doch welche Regeln gelten künftig? Dass die sogenannten Maastricht-Kriterien zu Defizitgrenzen und Schuldenabbau reformbedürftig sind, ist unstrittig. Die EU-Kommission hat maßgeschneiderte Regeln für jeden EU-Staat je nach Schuldenstand vorgeschlagen. Das gefällt längst nicht jedem.

Schwierige Schuldendebatte

Die Beratungen unter den EU-Staaten über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts gehen unter schwedischer Leitung in die heiße Phase. Die Schweden wollen unter der Maßgabe eines „Übergangs zu tragfähigen Staatsschulden und nachhaltigem Wachstum in allen Mitgliedstaaten“ auf einen Kompromiss hinwirken – ein verstecktes Plädoyer für mehr Fiskaldisziplin. Das verspricht intensive Debatten mit überdurchschnittlich hoch verschuldeten Ländern wie Italien.

Für Zündstoff sorgen auch Bestrebungen der EU-Kommission für neue Gemeinschaftsschulden. Damit kokettiert Kommissionschefin Ursula von der Leyen immer wieder. So hat sie für den Frühsommer Einzelheiten zu einem nebulösen „Souveränitätsfonds“ angekündigt, der ihr als Reaktion auf Subventionen der USA vorschwebt. Finanzminister Lindner ist gegen jede Form neuer EU-Schulden, ähnlich sehen es die Schweden.

Sie äußern sich verhalten zu den Plänen der EU-Kommission: Die laufende Debatte über neue Eigenmittel werde man im Rahmen des Wiederaufbaufonds fortsetzen. Da gebe es ohnehin „noch viel zu tun“, heißt es. Denn etliche Milliarden aus dem 750 Mrd. Euro Wiederaufbaufonds sind längst nicht verplant, weil Reformen und Investitionen vielerorts stocken. Statt neuer Geldtöpfe für die EU-Kommission, die sie auch im Rahmen einer für das zweite Quartal avisierten Review ihrer mehrjährigen Haushaltsplanung thematisieren dürfte, priorisieren die Schweden ein Paket gegen Steuerflucht.

Finanzmärkte

Einiges vorgenommen haben sich schwedische Regierung und EU-Kommission auch mit Blick auf den Finanzmarkt. Die Skandinavier haben sich den Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung auf die Fahnen geschrieben. Sie wollen die Verhandlungen über eine neue EU-Behörde gegen Geldwäsche vorantreiben. Offen ist die Standortfrage. Frankfurt ist im Rennen. Darüber konnten sich die Finanzminister – anders als in inhaltlichen Positionen etwa zu einer Bargeldobergrenze – bislang nicht verständigen.

Erklärtes Ziel der Schweden ist, eine gemeinsame Position der EU-Staa­ten zur Vereinheitlichung der Insolvenzregeln zu verhandeln. Kürzlich hat die Kommission ihren Vorschlag dargelegt. Er ist Teil eines großen Aufschlags inklusive Clearingdiensten und vereinfachten Börsengängen (Listing Act). Die Schweden erwarten eine Reihe weiterer Vorschläge zur Kapitalmarktunion. Darunter sind Regeln zum Verbraucherschutz als Teil eines für April erwarteten Kleinanleger-Pakets und ein für Mai vorgesehener Kommissionsvorschlag zum digitalen Euro.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.