Weltwirtschaft

Dramatischer Umschwung bei der WTO

Durch den Krieg in der Ukraine haben sich die Aussichten für die Weltwirtschaft abrupt gedreht: Bei der WTO überwiegen nun Skepsis und Sorgen. Die Debatte über eine Rückverlagerung von Lieferketten flammt auf.

Dramatischer Umschwung bei der WTO

rec Frankfurt

Die Stimmungslage bei der Welthandelsorganisation (WTO) hat wegen des Ukraine-Kriegs dramatisch umgeschlagen. Die Ökonomen der WTO haben ihre Wachstumserwartungen deutlich ab­ge­senkt: Für den Welthandel von 4,7% auf etwa 3%, für die Weltwirtschaftsleistung von 4,1% auf 2,8%. Sie betonen, dass die Unsicherheiten extrem seien und die Abwärtsrisiken überwögen. Insofern sind im Jahresverlauf weitere Korrekturen nach unten zu befürchten. Selbst eine Stagnation im globalen Warenhandel scheint nicht ausgeschlossen.

Binnen weniger Monate hat sich der Tenor fundamental ins Gegenteil verkehrt. Im Oktober hatten die WTO-Experten noch überraschend positive Töne angeschlagen: Der Güterhandel erhole sich schneller als gedacht, Lieferkettenprobleme wendeten sich zum Besseren. Die harten Daten schienen ihnen recht zu geben: 2021 legte der Güterhandel knapp 10% zu, was das Minus von 5% im ersten Coronajahr mehr als wettgemacht hat. Lieferketten hätten sich im Vergleich zu früheren Krisen als widerstandsfähiger erwiesen, betont auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in einem gerade veröffentlichten Kapitel seines Weltwirtschaftsausblicks.

Russlands ununterbrochener Krieg in der Ukraine hat einen Um­schwung ausgelöst. In Genf überwiegen nun Skepsis und Sorgen. WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala sagte: „Lieferketten, die bereits durch die Pandemie belastet sind, werden durch den Krieg weiter erschüttert.“ Eindringlich warnte sie vor einer Nahrungsmittelkrise insbesondere auf ihrem Heimatkontinent Afrika, wo viele Länder auf die Einfuhr von Weizen und Grundnahrungsmitteln wie Bohnen aus der Ukraine und Russland angewiesen sind. Auch bei Düngemitteln und Mineralien zeichnen sich dramatische Engpässe ab. „Die wirtschaftlichen Rückschläge werden weit über die ukrainischen Grenzen hinausgehen“, sagte Okonjo-Iweala.

Das schlägt sich in den Wachstumsprognosen der WTO nieder. Deren Bandbreite ist außergewöhnlich hoch: Sie reicht von 0,5% bis 5,5%, was die Umfänge des grenzüberschreitenden Warenaustausches in diesem Jahr betrifft (siehe Grafik). Für 2023 veranschlagen die WTO-Ökonomen um Chefvolkswirt Robert Koopman ein Plus von 3,4%.

Berücksichtigt hat die WTO nach eigenen Angaben durch den Krieg zerstörte Infrastruktur, höhere Handelskosten und Folgen von Sanktionen wie den Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungsinformationsnetzwerk Swift. Nicht eingeflossen sind Auswirkungen eines möglichen Öl- und/oder Gas-Embargos durch die EU gegen Russland, wie Koopman auf Nachfrage sagte. Die WTO behält sich deshalb vor, von ihrem üblichen Halbjahrestakt abzuweichen und vor dem Herbst ihre Prognosen zu aktualisieren.

Der Chefvolkswirt sprach von einer „Reihe extrem schwieriger Umstände für die Weltwirtschaft“. Deswegen hat sein Team vorerst von Szenarien für die Entwicklung des Welthandels abgesehen, bis mehr Klarheit herrscht. Das betrifft neben dem Ukraine-Krieg weitere Bereiche wie die Lockdowns in Schanghai und anderen chinesischen Großstädten. Auch hier ist kaum absehbar, wie heftig sie internationale Lieferketten und damit die Weltwirtschaft belasten werden.

Vor dem Hintergrund der diversen Krisenherde flammt die Debatte über eine Neuordnung der globalen Ar­beitsteilung auf. Ökonomen des IWF raten Unternehmen und Regierungen davon ab, Lieferketten zu­rück in die Heimat verlagern zu wollen. Statt einer solchen Strategie des Reshoring sollten sie ihre Lieferketten international diversifizieren und sich für den Ernstfall alternative Lieferanten suchen. Widerstandsfähigere Lieferketten seien bei unterschiedlichsten Schocks notwendig. Als Beispiele nennt der IWF neben der Pandemie den Krieg in der Ukraine, Cyberangriffe und Extremwetterereignisse in Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Ähnlich argumentieren führende Vertreter der WTO. Ein Trend zur Rückverlagerung von Lieferketten sei nicht zu erkennen, hieß es in Genf. Beispielhaft verweist die WTO in ihrem Welthandelsausblick auf die Abhängigkeit der Autobranche von Palladium aus Russland.

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