Energiekrise

Europa droht die Rationierung von Gas

Am Wochenende konnte die Bundesregierung noch mit einem großen Entlastungspaket für die Bürger punkten, um die hohen Energiepreise abzumildern. Doch der neue Gas-Lieferstopp bringt größere Probleme: Es droht eine Rationierung.

Europa droht die Rationierung von Gas

Die Rationierung von Gas und Strom ist nach der faktischen Schließung der Nord Stream-Pipeline in diesem Winter wohl fast unvermeidlich geworden. Davon zeigen sich Energieexperten überzeugt. Und das zieht inzwischen auch der Chef des angeschlagenen Energiekonzerns Uniper, Klaus-Dieter Maubach, in Betracht. Man wisse aber, sagte der Manager der Nachrichtenagentur Reuters am Montag am Rande einer Gaskonferenz in Mailand, dass die Bundesregierung dies unbedingt verhindern wolle, weil dies einer Katastrophe gleich käme. Auch die Bundesregierung legt sich nicht fest. Sie betonte am Wochenende zwar, dass die Versorgungssicherheit vorerst gewährleistet sei. Die Gasspeicher füllten sich und neue Gasquellen würden erschlossen. Aber die Bundesnetzagentur hatte bereits früher gewarnt, dass selbst fast komplett gefüllte Gasspeicher nur für zweieinhalb Monate reichen würden, wenn kein Gas aus Russland mehr fließt. Aktuell sind die Speicher zu etwa 85% gefüllt.

„Die EU befindet sich jetzt im roten Bereich. Die Nachfrage muss weiter gesenkt werden”, sagt Thierry Bros, Professor an der Sciences Po in Paris. Bros zufolge muss die Nachfrage um weitere 3% zurückgehen. Die Europäische Union hat bereits ein freiwilliges Ziel zur Senkung der Gasnachfrage um 15% festgelegt, das bei Bedarf auch verpflichtend werden kann, doch wie das gerade auch bei privaten Haushalten durchgesetzt werden kann, ist noch unklar. Auf einem Sondertreffen der Energieminister am Freitag werden laut EU-Diplomaten nun wohl Schritte in Betracht gezogen, die zuvor undenkbar schienen.

Deutscher Gas-Notfallplan

Der deutsche Gasnotfallplan steht bereits auf der zweiten von drei Alarmstufen. Auf dem höchsten Level sind auch Rationierungen möglich.

Die Gaspreise waren letzte Woche gesunken, nachdem sich am Markt die Sicht durchsetzte, dass Gazprom die Pipeline wieder hochfahren würde. Diese Hoffnung wurde am Freitagabend enttäuscht – wenige Stunden, nachdem die G7 sich auf einen Preisdeckel für russisches Öl geeinigt hatte. Gazprom machte für die vorerst unbefristete Stilllegung der Verbindung offiziell ein bei der Wartung entdecktes „Öl-Leck“ verantwortlich.

Die Preise, die bereits viermal so hoch sind wie vor einem Jahr, sind heute am Morgen bereits durch die Decke geschossen und liegen augenblicklich um über 30% höher als vor dem Wochenende. Sie könnten heute weiter steigen und damit den Druck auf Industrie und Haushalte erhöhen – und auf die Politik, zu handeln. Nach dem vollständigen Stopp der Ostseepipeline verbleiben nur noch zwei Hauptrouten für russisches Gas in die EU: die über die Ukraine in die Slowakei und nach Österreich – über die ebenfalls weniger fließt –, und die über TurkStream durch das Schwarze Meer.

Druck auf Berlin

Der Gas-Stopp erhöht auch den Druck auf Berlin, die deutschen Kernkraftwerke länger in Betrieb zu halten. Offiziell wartet die Bundesregierung noch auf Ergebnisse von Stresstests, aber eine Verlängerung wird nun immer wahrscheinlicher. Die Verlängerung der Laufzeit von zwei der verbliebenen drei Kernkraftwerke würde 2,3% des Gasverbrauchs ausgleichen, hat Bloomberg berechnet.

„Die Verlängerung der Kernenergie ist für Deutschland ein absolutes Muss, und sie wird definitiv einen Unterschied machen”, sagt Bloomberg-Analyst Kesavarthiniy Savarimuthu. „Jeder Kubikmeter Gas ist entscheidend für die Versorgungssicherheit.”

Viel hängt jetzt auch vom Wetter ab. Laut Maxar Technologies LLC wird der Oktober, der Beginn der Heizsaison im Winter, mit überdurchschnittlich hohen Temperaturen im Norden und Westen Europas mild ausfallen. Wie schnell Europa seine Vorräte aufbraucht, hängt davon ab, wie schnell es kalt wird.

Als Ersatz für das russische Pipelinegas konkurriert Europa nun mit Asien um Flüssiggas. Wenn der Winter in beiden Regionen besonders kalt wird, könnten die europäischen Speicher sich gegen Ende des Winters leeren.

Drittes Entlastungspaket der Koalition

Um zumindest die preislichen Sorgen der Bundesbürger etwas zu kalmieren, stellte die Bundesregierung am Wochenende ihr drittes Entlastungspaket vor. Das 65 Mrd. Euro schwere Hilfsprogramm soll Millionen von Haushalten durch die schwerste Energiekrise seit Jahrzehnten helfen.

Zu den Maßnahmen gehören die Begrenzung und Umverteilung der Gewinne, die einige Energiekonzerne aufgrund der aktuellen Krise kassieren, höhere Zahlungen an Rentner, Studenten, Eltern und Arbeitslose sowie Maßnahmen zur Eindämmung des astronomischen Anstiegs der Strompreise.

Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich am Sonntag überzeugt, dass die Übergewinnsteuer, jetzt „Zufallsgewinnsteuer“ genannt, für Energieunternehmen „viele, viele Milliarden” Euro abschöpfen und zur Finanzierung des Entlastungspakets bereitstellen werde. Das Paket soll daher ohne eine zusätzliche Neuverschuldung möglich sein.

Das Paket werde zu „erheblichen Mehrausgaben im Bundeshaushalt” führen, teilte die Regierung mit. Etwa 40 Mrd. Euro des Gesamtbetrags entfallen dabei auf den Bund.

Ein Element des Pakets ist ein Nachfolgemodell für das beliebte 9-Euro-Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel. Weitere Bausteine:

Begrenzte Wirkung

Auch mit dem neuen Entlastungspaket kann Deutschland nach Prognose von Ökonomen einer Rezession aber nicht mehr entkommen. „Das dritte Entlastungspaket ändert wenig daran, dass Deutschland im Herbst in eine Rezession abgleiten dürfte“, sagte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer der Nachrichtenagentur Reuters. Auch ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski schließt sich dieser Einschätzung an. Die am Sonntag beschlossenen Maßnahmen machten weniger als 2% des deutschen Bruttoinlandsproduktes aus und reichten nicht an die fiskalischen Anreize wegen der Corona-Pandemie heran, die sich auf etwa 15% des BIP belaufen hatten.

Der massive Energiepreisanstieg stelle in erster Linie einen Angebotsschock dar, sagte Krämer. „Die Unternehmen müssen den Einsatz der teuer gewordenen Energie zurückfahren und entsprechend ihre Produktion kürzen“, so der Commerzbank-Chefökonom. 16% der Unternehmen planen dies einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zufolge bereits. „Das Entlastungspaket kann nichts daran ändern, dass Deutschland als Nettoimporteur von Energie ärmer geworden ist“, sagte Krämer.

Kaufkraft vermindert

Die steigenden Energiepreise als Folge des russischen Krieges in der Ukraine nagen zudem an der Kaufkraft der Verbraucher und erhöhen die Kosten der Unternehmen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs bereits von April bis Juni nur noch um 0,1% zum Vorquartal. Von Rezession wird gesprochen, wenn die Wirtschaftsleistung mindestens zwei Quartale in Folge schrumpft.

Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) sieht darin zumindest einen stabilisierenden Faktor. „All diese Maßnahmen stützen die Kaufkraft und dürften damit in den kommenden Monaten helfen, einen drastischen Rückgang der Konsumnachfrage zu vermeiden“, sagte dessen wissenschaftlicher Direktor Sebastian Dullien. Die deutsche Volkswirtschaft werde 2023 absehbar von einem Schock durch gestiegene Importpreise für fossile Energieträger von etwas mehr als 200 Mrd. Euro getroffen. Der nun beschlossene Nachfrageimpuls von 65 Mrd. Euro „könnte im Prinzip ein Drittel dieses Schocks abfedern und damit eine nun drohende Rezession zumindest deutlich mildern oder möglicherweise auch verhindern“, sagte Dullien.

IW: Mogelpackung

Demgegenüber spricht das Institut der deutschen Wirtschaft von einer „Mogelpackung“. Ein Großteil davon sei bereits im Koalitionsvertrag niedergelegt gewesen. Und auch die steuerliche Freistellung der Rentenbeiträge sei „keine spontane Entlastungsmaßnahme der Politik, sondern eine Vorgabe des Verfassungsgerichts.“