INTERVIEW: JÖRG KRÄMER

"Helikoptergeld ist keine Lösung"

Der Chefvolkswirt der Commerzbank zu den ökonomischen Folgen zunehmender sozialer Ungleichheit - und was die Politik tun muss

"Helikoptergeld ist keine Lösung"

Gewisse Einkommensunterschiede sind in einer Marktwirtschaft notwendig, verstärken und verhärten sie sich aber, ist das Gift für die wirtschaftliche Entwicklung. Derzeit sorgt in Deutschland noch der Aufschwung für eine gewisse Entspannung hierbei, sagt Jörg Krämer, doch nach Ende des Job-Booms könnte sich das Problem zuspitzen.- Herr Krämer, die OECD und der IWF beklagen die negativen Wirkungen zunehmender Ungleichheit in den Industrieländern und fordern Gegenmaßnahmen. Was ist so schlimm daran? Lebt die Marktwirtschaft nicht gerade vom Anreiz, es einmal besser haben zu wollen?Natürlich, zu einer Marktwirtschaft gehören Einkommensunterschiede. Die Aussicht auf ein höheres Einkommen ist ein wichtiger Antrieb für die Menschen – nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Unternehmer. Ohne Einkommensunterschiede gäbe es keinen technischen Fortschritt, sondern nur einen stagnierenden, grauen Sozialismus. Aber die Einkommensunterschiede dürfen nicht zu groß sein. Ansonsten können sich begabte, aber arme Menschen keine Bildung leisten und sich nicht zum Wohle der Gesellschaft entfalten. Außerdem kommt es bei extremer Einkommensungleichheit zu politischen Spannungen, vielleicht sogar zu politischen Umstürzen, was Gift für die wirtschaftliche Entwicklung ist.- Sind wir schon an dem Punkt, dass die Einkommens- und Vermögensballung zu einer säkularen Stagnation der Gesamtwirtschaft führt? Der französische Ökonom Thomas Piketty vermutet dies, weil die Vermögenden ihren Reichtum nur immer weiter akkumulieren?Wer so etwas für Deutschland behauptet, ignoriert die Daten. Hierzulande ist der private Konsum im Durchschnitt der letzten fünf Jahre preisbereinigt um 1,5 % gewachsen, in den vergangenen zwei Jahren waren es sogar 2 %. Wir erleben einen konsumgetriebenen Aufschwung.- Auch in Deutschland wird über Ungleichheit debattiert. Umfragen bestätigen, dass das Thema viele Menschen umtreibt. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat sogar seinen Wahlkampf darauf ausgerichtet. Sind die Sorgen hierzulande berechtigt?Die Ungleichheit ist gemessen an den Bruttolöhnen in den letzten Jahren in Deutschland nicht gestiegen, sondern zurückgegangen. Wegen der sehr guten Lage am Arbeitsmarkt haben gering qualifizierte Arbeitnehmer einen Teil der vorherigen Einkommensverluste aufgeholt. Dass viele Menschen trotzdem eine wachsende Ungleichheit wahrnehmen, liegt vermutlich an der zunehmenden sozialen Separierung. Familien mit überdurchschnittlichen Einkommen ziehen sich in sogenannte gute Stadtviertel zurück – auch um ihren Kindern bessere Schulen bieten zu können. Dagegen nehmen die Probleme in den anderen Stadtvierteln zu, die Kinder dort haben schlechtere Bildungs- und wohl auch Berufschancen. Die Menschen erleben diese soziale Separierung und erwarten, dass das in Zukunft zu mehr Lohnungleichheit führt.- Und rechnen Sie damit?Die Sorgen der Menschen sind nicht unbegründet. Irgendwann endet der Job-Boom in Deutschland. Dann dürfte sich der Trend zu mehr Lohnungleichheit wieder durchsetzen, der Mitte der 70er Jahre eingesetzt hatte. Schließlich verknappt die Digitalisierung der Wirtschaft Arbeitnehmer mit einer guten Ausbildung und lässt ihre Löhne schneller steigen als die der Geringqualifizierten. Dieser Trend zu mehr Ungleichheit lässt sich nur durch eine qualitätsorientierte Bildungspolitik umkehren, die auch die Kinder der vielen bildungsfernen Haushalte erreicht.- Während DIW-Chef Marcel Fratzscher die Ungleichheit auch in Deutschland für dramatisch erachtet, hält IW-Chef Michael Hüther, die dafür angeführten Statistiken schlicht für falsch interpretiert. Wie denken Sie darüber?Weder dramatisieren noch ignorieren helfen weiter. Noch ist die Einkommensungleichheit in Deutschland verglichen mit anderen Ländern niedrig. Aber wir müssen wegen der zunehmenden sozialen Separierung in der Bildungspolitik energisch gegensteuern.- Gehen wir das Thema womöglich falsch an? Wird zu wenig umverteilt?An der Umverteilung liegt es bestimmt nicht. Es gibt kaum eine entwickelte Volkswirtschaft, in der die Ungleichheit der Bruttoeinkommen durch Steuern und Sozialtransfers so stark gesenkt wird wie in Deutschland. Hier tut der Staat mehr als genug. Defizite gibt es dagegen in der Bildung. Die Pisa-Studie zeigt, dass die Fähigkeiten der Schüler stark durch die soziokulturellen Hintergründe der Elternhäuser bestimmt werden. Darunter leiden vor allem Kinder mit Migrationshintergrund. In vielen Großstädten wie Frankfurt stammen weit mehr als die Hälfte der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien. Wenn Schulen und die Elternhäuser ihnen nicht bessere Bildungsmöglichkeiten bieten können, werden sie in der digitalen Arbeitswelt nicht erfolgreich sein und die Einkommensunterschiede in Deutschland werden massiv steigen.- Hat die Wirtschaftswissenschaft womöglich zu spät das Thema Ungleichheit in den Fokus genommen?Auch ich habe früher Verteilungsfragen unterschätzt. Aber seit der Finanzkrise weiß ich, dass die Menschen die Marktwirtschaft nur akzeptieren, wenn sie diese für fair halten. Volkswirte müssen sich deshalb mit Verteilungspolitik beschäftigen.- Wie wirken sich Einkommens- und Vermögensungleichheit auf die Finanzmärkte aus? Sind die niedrigen Zinsen womöglich auch eine Folge dessen, dass Reichtum sich in den Händen weniger ballt und ein gewisser Investitionsnotstand besteht?Sie sprechen die These von der Ersparnisflut an. Aber in den letzten Jahren sind die Anleiherenditen vor allem deshalb gefallen, weil die Zentralbanken massiv Anleihen gekauft haben. So wird die EZB gegen Ende nächsten Jahres fast ein Drittel aller Staatsanleihen besitzen. Ohne die EZB-Käufe ist beispielsweise nicht zu erklären, warum der Finanzminister des viel zu hoch verschuldeten Italiens nur einen halben Prozentpunkt mehr Zinsen für zehnjährige Anleihen zahlen muss als sein Kollege aus dem wirtschaftlich soliden Australien.- Die Notenbanker sprechen sehr ungern über die Verteilungswirkungen ihrer Geldpolitik. Welche Rolle spielt insofern die EZB-Geldpolitik in der Ungleichheitsdebatte?Mit ihrer Negativzinspolitik inflationiert die EZB die Vermögenspreise. Das begünstigt die Besitzenden enorm. Nirgends wird das so deutlich wie in deutschen Ballungsräumen, wo sich Normalverdiener kaum noch Reihenhäuser leisten können.- Wäre Helikoptergeld besser als Anleihekäufe? Also den Menschen das Geld direkt zukommen lassen, statt es in das Bankensystem zu stecken?Helikoptergeld ist keine Lösung. Denn wenn die EZB Geld nicht mehr verleiht, sondern verschenkt, werden viele Menschen nicht mehr arbeiten wollen. Helikoptergeld zerstört die Leistungsanreize und ist deshalb sogar gefährlich.- Wie viel Ungleichheit braucht die Marktwirtschaft eigentlich für die nötigen Anreize? Und wie viel Ungleichheit kann sich eine Demokratie leisten?Wenn Menschen aus der Mittelschicht bereits Spitzensteuersätze zahlen, wird zu viel umverteilt. Statt mehr Umverteilung brauchen wir mehr Chancengleichheit – vor allem bei der Bildung. Es darf nicht sein, dass gute Bildungschancen vor allem die Kinder haben, deren Eltern sich Wohnungen in sogenannten guten Vierteln leisten können.- Aktuell wird auch viel vor Altersarmut gewarnt. Die SPD will schlicht das Rentenniveau anheben. Wie sollte man aus Ihrer Sicht darauf reagieren?Letztlich will die SPD die Renten noch stärker aus Steuermitteln finanzieren, obwohl die gesetzliche Rentenversicherung bereits ein Viertel ihrer Einnahmen in Form von Bundeszuschüssen erhält. Damit wird das Versicherungsprinzip unterhöhlt. Es lohnt sich dann weniger, durch Arbeit und Zahlen von Rentenversicherungsbeiträgen eigenverantwortlich für die Rente vorzusorgen.—-Die Fragen stellte Stephan Lorz.