Europas Energiekrise

Industrie stimmt auf langen Gasnotstand ein

Strömt bald wieder Gas durch Nord Stream 1? Die Bundesregierung will Russland einen „Vorwand“ nehmen. Das Aus für die Atomkraft wackelt immer mehr. Und Brüssel und Rom finden alternative Lieferanten.

Industrie stimmt auf langen Gasnotstand ein

rec/ahe Frankfurt/Brüssel

Indus­trie und Politik in Europa stellen sich auf ein Ende der Gaslieferungen aus Russland ein. „Auf Deutschland kommt ein langfristig andauernder Gasmangel zu“, warnte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, am Montag. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vereinbarte derweil mit Aserbaidschans Regierungschef Ilham Alijew, aus dem Land deutlich größere Mengen Gas zu beziehen. Und in der deutschen Bundesregierung kommt zusehends Bewegung in die Debatte darüber, die verbliebenen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen.

All dies spielt sich vor dem Hintergrund des Gasstreits mit Russland ab. Bis Donnerstag fließt wegen der jährlichen Wartung kein Gas durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. In Wirtschaft und Politik mehren sich Zweifel, dass der russische Staatskonzern Gazprom nach Abschluss der Arbeiten wieder Gas liefert.

Anlass sind Äußerungen aus Moskau, wonach Sanktionen wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine einer Wiederaufnahme des Betriebs im Wege stünden. Konkret forderte Gazprom die Lieferung einer in Kanada gewarteten Turbine des deutschen Konzerns Siemens Energy, um die „verlässliche Arbeit“ von Nord Stream 1 zu gewährleisten. Die Bundesregierung will mit einer Ausnahmegenehmigung dafür sorgen, dass die Turbine trotz gegenteiliger Sanktionen wieder zum Einsatz kommen kann. Einer Sprecherin des Wirtschaftsministeriums zufolge will sie Russland auf diese Weise einen „Vorwand“ nehmen, die Gaslieferungen ganz einzustellen. Wann die Turbine eintrifft, war am Montag ungewiss.

Unterdessen intensivieren Europas Regierungen ihre Suche nach alternativen Gaslieferanten. Die EU-Kommission­ setzt künftig noch stärker auf Aserbaidschan, Italien auf Algerien. EU-Kommissionschefin von der Leyen unterzeichnete in Aserbaidschans Hauptstadt Baku eine Absichtserklärung, wonach die Gaslieferungen in die EU bis 2027 auf jährlich 20 Mrd. Kubikmeter hochgefahren werden sollen. Bereits in diesem Jahr wird es voraussichtlich zu Erdgaslieferungen aus dem Kaukasusland von 12 Mrd. Kubikmeter kommen – nach 8 Mrd. im Jahr 2021.

Von der Leyen sprach von einem „neuen Kapitel der EU-Zusammenarbeit mit Aserbaidschan im Energiebereich“, die zugleich auch Grundlagen einer langfristigen Partnerschaft bei den Themen Energieeffizienz und erneuerbare Energien lege. Derzeit verhandeln beide Seiten zudem über ein noch umfassenderes Abkommen, das auch Investitionen und den Handel beinhaltet.

Die italienische Regierung baut ihre Lieferbeziehungen mit Algerien aus. Ministerpräsident Mario Draghi verkündete bei einem Besuch in der Hauptstadt Algier, Algerien werde zusätzlich zu den bereits vereinbarten 21 Mrd. Kubikmetern Gas weitere 4 Mrd. Kubikmeter im Jahr liefern. „In diesen Monaten ist Algerien zum Hauptgaslieferanten für unser Land geworden“, sagte Draghi.

In Deutschland könnten wegen der sich verschärfenden Energiekrise die drei verbliebenen Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus am Netz bleiben. Das vom Grünen Robert Habeck geführte Wirtschaftsministerium wollte die Möglichkeit einer Laufzeitverlängerung am Montag nicht mehr ausschließen. Grundlage für die Entscheidung soll ein zweiter Stresstest für die Sicherheit der Stromversorgung sein, den das Wirtschaftsministerium den vier Übertragungsnetzbetreibern aufgetragen hat. „Auf der Basis dieser Ergebnisse wird dann entschieden, was zu tun ist“, sagte eine Sprecherin auf die Frage nach einer möglichen Laufzeitverlängerung. Ergebnisse zu dem zweiten Test unter verschärften Annahmen sollen in einigen Wochen vorliegen. Unter den Koalitionspartnern ist eine Laufzeitverlängerung umstritten: Die FDP dringt darauf, Grüne und SPD bremsten bislang.

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