Jeffrey Sonnenfeld

IWF erntet für Russland-Prognose heftige Vorwürfe

„Gewissenloses Nachbeten von Putins Propaganda“: Der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sonnenfeld aus Yale attackiert den Internationalen Währungsfonds. Der IWF rechtfertigt sich.

IWF erntet für Russland-Prognose heftige Vorwürfe

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Es sind schwere Vorwürfe, die Jeffrey Sonnenfeld gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) erhebt: Im Gespräch mit der Börsen-Zeitung kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler der Universität von Yale die jüngsten Einschätzungen des IWF zur Lage der russischen Wirtschaft. Dem IWF zufolge ist die Lage in Russland trotz Krieg und Sanktionen nicht so schlecht wie angenommen. Sonnenfeld sieht das ganz anders – und wirft dem IWF „naives, wenn nicht gar gewissenloses Nachbeten von Putins Propaganda“ vor. Auf Anfrage verteidigt der IWF seine Prognosen weitgehend und betont „das ungewöhnlich hohe Maß an Unsicherheit“.

Sonnenfeld stützt seine beißende Kritik auf eigene Erkenntnisse. Mit einem Team von Ökonomen hat der 69 Jahre alte Professor der Yale School of Management eine Palette „unkonventioneller“ Daten aus Einzelhandel und Industrie, von Russlands Handelspartnern und aus der Schifffahrt zusammengetragen und analysiert. Fazit ihrer international viel beachteten Studie: Der Massenexodus ausländischer Unternehmen und die westlichen Sanktionen „verkrüppeln die russische Wirtschaft“.

„Gefährliche Aussagen“

Im augenfälligen Kontrast dazu steht die Wahrnehmung des IWF. Vor wenigen Tagen hat der Währungsfonds seine diesjährige Prognose für Russland entschärft: Eine Rezession hält er 2022 zwar für unabwendbar, aber diese dürfte mit −6% nicht so verheerend ausfallen wie kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs im April erwartet (siehe Grafik).

Dazu veröffentlichte der IWF einige Zeilen, die Sonnenfeld die Zornesröte ins Gesicht treiben: „Die russische Wirtschaft dürfte im zweiten Quartal weniger geschrumpft sein als zuvor angenommen, da sich die Rohöl- und Nichtenergieexporte besser gehalten haben als erwartet. Darüber hinaus zeigt auch die Binnennachfrage eine gewisse Widerstandsfähigkeit, da die Auswirkungen der Sanktionen auf den inländischen Finanzsektor eingedämmt wurden und die Abschwächung auf dem Arbeitsmarkt geringer ausfiel als erwartet.“

Für Sonnenfeld sind das „gefähr­liche, wenn nicht sogar giftige Aus­sagen“. Er geht hart mit dem IWF ­ins Gericht. So veröffentliche der Kreml Wirtschaftsdaten unvollständig, „wobei ungünstige Daten selektiv weggelassen werden“. Dieser Umstand ist seit Monaten bekannt.

Sonnenfeld führt eine Reihe fehlender Statistiken an: Exporte und Importe, insbesondere mit Europa; monatliche Daten über die Öl- und Gasproduktion; Kapitalzuflüsse und -abflüsse; Jahresabschlüsse großer Unternehmen, die früher von den Unternehmen selbst veröffentlicht werden mussten; die monetäre Basis der Zentralbank; ausländische Direktinvestitionen; Daten zum Kreditgeschäft. Selbst die Luftfahrtbehörde Rosaviatsiya habe Angaben über das Passagieraufkommen von Fluggesellschaften und Flughäfen abrupt eingestellt.

IWF rechtfertigt sich

Unter diesen Umständen seien die Aussagen des IWF kaum zu rechtfertigen. Dass der IWF es trotzdem getan und dabei die spärlichen Daten offenbar für bare Münze genommen habe, findet Sonnenfeld „beschämend“. Er zeigt sich entsetzt, „wie der IWF solche massiven Datendiskrepanzen übersehen konnte“.

Der IWF geht nicht im Detail auf die Vorwürfe ein. In einer Stellungnahme heißt es: „Unsere jüngste Basisbewertung der russischen Wirtschaft deutet darauf hin, dass einige Sektoren widerstandsfähiger waren als ursprünglich angenommen, was aber nicht bedeutet, dass Russland den Sanktionen vollständig standgehalten hat.“ Dieses Jahr sei immer noch damit zu rechnen, dass die Wirtschaftsleistung „sehr beträchtlich schrumpft“. Außerdem verweist der Sprecher darauf, dass der IWF seine Russland-Prognose für 2023 im selben Zuge um 1,2 Prozentpunkte abgesenkt habe. „Noch wichtiger ist, dass wir davon ausgehen, dass die Wirtschaft bis 2027 um etwa 15% kleiner sein wird als vor dem Krieg prognostiziert, und die Lücke wird über 2027 hinaus wachsen. Das ist ein erheblicher und dauerhafter wirtschaftlicher Verlust.“

Methodische „Blackbox“

Jeffrey Sonnenfeld bemängelt auch fehlende Transparenz auf Seiten des IWF. Es sei schlicht unklar, wie die dortigen Ökonomen zu ihren Einschätzungen gekommen seien. Viele „übermäßig rosige Wirtschaftsprognosen“ in Bezug auf Russland seien darauf zurückzuführen, dass Volkswirte „irrationalerweise die Wirtschaftsdaten aus den ersten Tagen der Invasion extrapoliert haben, als die Sanktionen und der Rückzug der Unternehmen noch nicht voll wirksam waren“.

Sonnenfeld und sein Team haben es sich zur Aufgabe gemacht, penibel Buch zu führen, welche Unternehmen sich wann aus Russland zurückgezogen haben. Ihr Zwischenfazit: Mehr als 1000 Unternehmen sind weg. Diese hätten, grob überschlagen, für 40% der Wirtschaftsleistung gestanden. 12% aller bis zum Krieg Beschäftigten seien damit direkt von der Abwanderungswelle betroffen, viele Jobs mehr hingen daran. Außerdem seien mindestens 700000 Hochqualifizierte aus Russland geflohen, das habe die staatliche Nachrichtenagentur Tass selbst berichtet. Deshalb hält er die IWF-Aussagen über einen angeblich halbwegs robusten Arbeitsmarkt für Humbug.

Sonnenfeld meint: „Selbst die positiven Statistiken, die veröffentlicht wurden, sind angesichts des politischen Drucks, den der Kreml ausgeübt hat, um die statistische Integrität zu untergraben, zweifelhaft.“ Anders als sein Team habe der IWF seine Methoden, die seinen Prognosen zugrunde liegen, nicht kenntlich gemacht. „Sie offenbaren, dass sie nichts haben, um ihre Annahmen zu stützen oder ihre Annahmen überhaupt offenzulegen!“ Die Rede ist von einer „Blackbox“.

Der Wirtschaftswissenschaftler ist mit seiner Kritik nicht allein. Auch andere halten die IWF-Prognosen für angreifbar. Zwar geht Rüdiger Bachmann, deutscher Ökonom an der Universität von Notre Dame, davon aus, „dass der IWF auf offizielle Zahlen angewiesen ist“. Als Ausrede will Bachmann das auf Anfrage der Börsen-Zeitung aber nicht gelten lassen: Den offiziellen Zahlen „von einem Regime, das von einem KGB-Mann geführt wird, sollte man nun wirklich grundsätzlich nicht trauen“.

Déjà-vu für Georgiewa

Auch für IWF-Chefin Kristalina Georgiewa sind die Vorwürfe unangenehm. Es ist nicht das erste Mal, dass Zweifel an der Verlässlichkeit einer von ihr geführten Organisation aufkommen. Voriges Jahr machten Anschuldigungen die Runde, die Weltbank habe 2017 ihren jährlichen Bericht zum Geschäftsklima in aller Welt zugunsten Chinas geschönt. Die Weltbank zog den Bericht daraufhin zurück. Georgiewa wehrte sich erfolgreich, persönlich für Verfehlungen haftbar gemacht zu werden: Sie durfte IWF-Chefin bleiben.

Yale-Professor Sonnenfeld findet, es sei jetzt „vielleicht an der Zeit für Personalwechsel beim IWF“. Er wirft den Länderexperten bei der Organisation in Washington vor, es sich mit ihrer Russland-Prognose zu leicht gemacht zu haben. Statt „wirklich analytische Arbeit zu leisten“, hätten sie „lediglich Putins Propaganda naiv akzeptiert und die ungeprüften, inkonsistenten, irreführenden russischen Statistiken übernommen“.

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