EU-Haushaltsregeln

Maastricht-Kriterien und Stabilitätspakt unter Beschuss

In der Eurozone drängen vor allem die hoch verschuldeten Staaten auf neue Haushaltsregeln und nehmen dabei sowohl die Maastricht-Kriterien als auch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ins Visier. Neben Italien tut sich dabei vor allem Frankreich hervor.

Maastricht-Kriterien und Stabilitätspakt unter Beschuss

Von Gesche Wüpper, Paris, und Andreas Heitker, Brüssel

In Europa werden immer mehr Stimmen laut, die dauerhafte Änderungen in den europäischen Haushalts- und Verschuldungsregeln fordern. Eine Debatte über eine Schuldentragfähigkeit in der Eurozone hatte schon 2020 begonnen, als die hohen Ausgaben zur Pandemiebekämpfung die Haushaltsdefizite in allen Staaten stark in die Höhe getrieben hatten. Doch jetzt machen Italien und Frankreich neue Vorstöße – die beiden am stärksten verschuldeten Schwergewichte der Eurozone.

Jüngsten Prognosen der EU-Kommission zufolge muss Frankreich in diesem Jahr mit einem Schuldenstand von 118% des Bruttoinlandsprodukts rechnen, Italien sogar mit 160%.

Die EU-Kommission hatte im vergangenen Jahr schnell reagiert und die Haushaltsregeln gleich nach Beginn der Coronakrise mit Hilfe der „allgemeinen Fluchtklausel“ ausgesetzt. Für Befürworter der Regeln – unter anderem Bundesfinanzminister Olaf Scholz – ist dies das Zeichen, dass das System genügend Flexibilität hat und funktioniert. Voraussichtlich im Mai wird die EU-Kommission beschließen, dass die Haushaltsregeln auch 2022 noch ausgesetzt bleiben. Aber dann? Italiens Premier Mario Draghi stellte Ende vergangener Woche fest, dass niemand in Europa nach der Pandemie zu den alten Regeln zurückkehren wolle.

Verbündete für seine Haltung weiß er in Paris. Frankreich versucht, die Weichen zu stellen, um eine Debatte über den Stabilitätspakt anzustoßen, wenn es im ersten Halbjahr 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. So plädierte der staatliche Thinktank Conseil d’analyse économique (CAE) gerade in einer neuen Note dafür, die Maastrichter Defizitgrenze von 3% abzuschaffen und die Schuldenobergrenze von 60% durch eine speziell für jedes einzelne Land festgelegte Höchstgrenze zu ersetzen. Diese könnte von jedem Land selbst für fünf Jahre definiert, dann von einer unabhängigen nationalen Behörde und von Brüssel bestätigt werden. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sprach sich ebenfalls für eine individuelle Festlegung der Schuldenobergrenze Land für Land aus.

„Die Covid-Krise hat die Diskrepanz zwischen dem Rahmen und der Wirklichkeit noch deutlicher zutage treten lassen“, heißt es beim CAE. Zu den Autoren gehört neben den Ökonomen Philippe Martin und Xavier Ragot auch Jean Pisani-Ferry, der als wirtschaftspolitischer Berater während der letzten Präsidentschaftswahlen das Wahlprogramm von Emmanuel Macron maßgeblich mitentwickelt hatte. „Wir befinden uns nicht mehr in der Welt von Maastricht“, heißt es in der CAE-Studie. Für die Defizitgrenze von 3% gebe es keine analytische Grundlage. Stattdessen habe sie beträchtliche nachteilige Auswirkungen.

In Brüssel sieht man diese Debatten deutlich zurückhaltender. EU-Kommissions-Vize Valdis Dombrovskis räumte am Freitag nach Beratungen der EU-Finanzminister zwar ein, dass die Regeln auch ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung nach der Pandemie liefern sollten und dass der Stabilitätspakt vereinfacht werden könne. Dombrovskis will aber die 2020 gestoppte Überprüfung der Regeln vorerst noch fortsetzen.

Die Debatte über die Maastricht-Kriterien pünktlich zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich im nächsten Frühjahr anzustoßen sei nicht dumm, urteilen Beobachter in Paris. Denn wie bereits 2017 dürften populistische Kandidaten versuchen, mit dem Versprechen zu punkten, dem Diktat aus Brüssel ein Ende zu bereiten. Macron ist zwar überzeugter Europäer, hat sich jedoch bereits vor Ausbruch der Pandemie kritisch zum Stabilitätspakt geäußert. Gegenwind kommt vom Banque-de-France-Chef François Villeroy de Galhau. Der hat gerade für die Beibehaltung der 3-Prozent-Grenze plädiert.