Frankfurt

Abitur mit der Note erstaunlich

Unternehmen verwenden immer mehr Energie darauf, in Stellenanzeigen für sich zu werben, und weniger auf die Einstellungskriterien. Das hat einen sehr guten Grund.

Abitur mit der Note erstaunlich

Die Frage, wie man zum Bewerbungsgespräch angezogen sein sollte, ist heikel. Und sie stellt sich immer häufiger. Um Missverständnisse zu vermeiden: Sie stellt sich immer häufiger für Personaler und Manager und andere Führungskräfte, die einen Bewerber oder eine Bewerberin interviewen wollen. Sie sind es, die sich gut überlegen müssen, ob sie Schlips oder weiße Bluse tragen – nicht der Kandidat, nicht die Kandidatin. Schließlich hat der Wind gedreht. Wir befinden uns in einem Bewerbermarkt. Die Bewerber sitzen am längeren Hebel. Denn sie werden händeringend gesucht. Und zwar längst auch Kandidaten ohne Krawatte oder graues Kostüm.

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Anschaulich wird das beispielsweise daran, dass Unternehmen in Stellenanzeigen immer mehr über sich reden, um sich als attraktiv zu präsentieren und für die Aspiranten aufzuhübschen – und immer weniger über die Anforderungen an den Kandidaten.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Stellengesuche niemanden verschrecken sollen – insbesondere nicht Frauen. In Personalstellen laufen Studien um, denen zufolge potenzielle Bewerberinnen darauf verzichten, den Finger für eine Stelle zu heben, wenn sie nur vier von fünf Kriterien eines Stellengesuchs erfüllen. Jungs sind da angeblich anders drauf. Viele von ihnen, so heißt es, trauen sich bereits einen Job zu, wenn sie ein einziges Kriterium von fünf erfüllen. Führerschein Klasse 3? Habe ich. Na klar, dann kann ich mich auch für den Job des Vertriebsleiters bewerben, den Rest kriege ich schon irgendwie hin.

Dass ein großer Teil der Bewerber heute mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet ist, bestätigen Bankvorstände. Mancher beschreibt den typischen Kandidaten gar als Wesen mit zwei Daumen und einem Auge – in der Pose eines Angebers, der beide Daumen auf sich richtet und dabei mit dem Auge zwinkert nach dem Motto: Alles easy!

Der Vorstandschef eines traditionsreichen Bankhauses erzählte, jüngst sei in einem Auftaktgespräch bereits die zweite Frage eines Bewerbers für eine leitende Position gewesen, wann denn eigentlich die „recreational time“ am Nachmittag eingeplant sei. Eine Personalerin beklagte, dass es IT-Fachkräfte gebe, die Stellen ablehnten, weil „nur“ 80% Homeoffice möglich seien. Und ein Investmentprofi sah sich veranlasst, bei einem Vortrag vor Studenten darum zu bitten, wenigstens beim ersten Gespräch mit ihrem möglichen künftigen Arbeitgeber doch bitte schön zwei Themen auszusparen: Prämien für Pünktlichkeit und Bürohunde.

Dabei dürften die Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen, heute noch recht überschaubar sein – zumindest im Vergleich mit dem, was uns in den nächsten Jahren blüht. Denn noch sind die Babyboomer am arbeiten und nicht in Rente. In fünf, sieben oder neun Jahren jedoch wird sich das Gros der geburtenstarken Jahrgänge aus den Büroetagen verabschieden.

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Nichtsdestotrotz ist der Mangel nicht nur an Fachkräften, sondern überhaupt an Kräften bereits gegenwärtig akut. Schon heute gewinnen Personalengpässe einen immer größeren Einfluss auf die Geschäftsmodelle, insbesondere in Banken. Dass Standorte geschlossen werden, hat in einigen Fällen weniger mit strategischer Planung und bewusster Straffung des Filialnetzes zu tun, sondern vielmehr damit, dass es schlicht nicht gelingt, für bestimmte Zweigstellen Personal zu finden – ganz besonders im Umland. Einige Institute versuchen es mittlerweile mit Umschulungen von Kassiererinnen oder Verkäuferinnen aus dem Einzelhandel, die sie damit locken, dass sie samstags endlich ausschlafen können.

Und quer durch die Bank werden die Anforderungen aufgeweicht. Für Positionen, für die früher ein Universitätsabschluss nötig war, reichen mittlerweile einige Semester an der FH. Und wo einstmals Anwärtern ein Einser-Zeugnis abverlangt wurde, tut es heute auch mal ein Abitur mit der Note erstaunlich.