Tokio

Behütung statt Selbständigkeit

Eine japanische Serie findet derzeit internationale Beachtung: Kinder sollen selbstständig Aufträge erledigen – ohne Begleitung. Die Realität in Japan sieht aber weit mehr behütet aus.

Behütung statt Selbständigkeit

„Erste Erledigung“ heißt eine TV-Un­terhaltungssendung des größten Privatsenders Nippon TV, die gerade internationale Aufmerksamkeit er­regt. Der Streaming-Dienst Netflix strahlt neuerdings ausgewählte Episoden unter dem Titel „Old Enough“ aus, weil japanische und koreanische Serien sich derzeit weltweiter Beliebtheit erfreuen.

Das Konzept der Sendung: Eltern schicken ihr Kind im Alter zwischen drei und sechs Jahren erstmals ohne Begleitung mit einem Auftrag los. Auf seinem Weg wird das Kind von versteckten Kameras begleitet. Über ein Mikrofon in einem Täschchen am Hals können die Zuschauer auch hören, wenn das Kind mit anderen Leuten und sich selbst redet oder sich mit einem gesummten Lied Mut macht.

Der Reiz der Sendung besteht in den Komplikationen, mit denen das Kind unterwegs kämpfen muss sowie der Spannung, ob die Aufgabe am Ende tatsächlich erledigt wird. In einer Folge bricht ein kleines Mädchen unterwegs aus Verzweiflung in Tränen aus und kehrt zu der Mutter zurück, um dann erneut mit mehr Erfolg loszulaufen. In einem anderen Fall vergisst ein Kind vor lauter Aufregung seinen Auftrag. Diese „Doku“ läuft in Japan zweimal jährlich seit drei Jahrzehnten, aber vom Ausland wahrgenommen wird sie erst jetzt.

Einige ausländische Berichte lobten den Erziehungsgedanken hinter der Sendung, Kinder früh zur Selbstständigkeit zu erziehen. Die japanische Perspektive sieht anders aus: Es geht mehr darum, dass jemand ein funktionsfähiges Mitglied der Gesellschaft wird. Andere internationale Berichte über die Sendung betonten, die Kinder könnten sich nur allein bewegen, weil es in Japan so wenig Kriminalität gebe. Zum Beispiel würden schon Erstklässler mit der U- und S-Bahn allein zur Schule fahren. Doch so viel niedriger ist die Verbrechensrate verglichen mit Deutschland nicht. Und die kleinen Kinder, die allein Bahn fahren, gehören zur winzigen Minderheit der Privatschüler. Die normalen Erst- und Zweitklässler laufen stets gemeinsam mit anderen in der Gruppe zur Schule in ihrem Viertel, die wichtigsten Zugangswege sind morgens für Autos gesperrt, an den Kreuzungen stehen Schülerlotsen. Statt zu Alleingängen zu ermutigen, setzt man in Japan also auf Behütung.

Dieser Erziehungsansatz zeigt sich auch darin, dass Japaner bisher erst mit 20 Jahren als selbstständige Erwachsene betrachtet wurden. Im April senkte die Regierung das Alter für Volljährigkeit zwar auf 18 Jahre. Nun können die Teenager zwei Jahre früher eine Kreditkarte bekommen, einen Mietvertrag unterschreiben und auch heiraten. Aber an der prinzipiellen Sorge, dass der eigene Nachwuchs auf Abwege geraten könnte, hat sich wenig geändert. So dürfen Japaner bis zum Alter von 20 Jahren trotz Volljährigkeit weiter weder alkoholhaltige Getränke kaufen noch konsumieren. Auch das Rauchen in der Öffentlichkeit ist ihnen untersagt.

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Auf einen weiteren Sorgenpunkt hat das Parlament erstaunlich schnell reagiert. Mehrere Bürgergruppen hatten kritisiert, dass aufgrund der Änderung nun schon 18- und 19-jährige Frauen pornografische Filmaufnahmen machen dürfen. Bisher brauchten sie die schriftliche Zustimmung der Eltern. In Japan lassen sich junge Frauen nämlich immer wieder zur Teilnahme an Pornos zwingen, wie eine Opferanhörung im Parlament eindrucksvoll bewies. Oberschülerinnen werden mit der Aussicht auf ein Casting für eine Talentshow in ein Hotel gelockt und dort von Männern so eingeschüchtert, dass sie die Filmaufnahmen „erlauben“. Anschließend werden sie damit erpresst. Wenn sie nicht an weiteren Filmen teilnehmen, würde man die ersten Aufnahmen den Eltern zeigen.

Vor diesem Hintergrund nahm das Unterhaus Ende Mai einen Gesetzentwurf zum Schutz von Personen, die gegen ihren Willen in pornografischen Videos mitspielen, einstimmig (!) an. Das Oberhaus will bis nächste Woche folgen. Das Gesetz führt eine Frist von zwei Jahren ein, innerhalb derer Pornodarsteller ihren Vertrag über die Veröffentlichung der Videos einseitig kündigen dürfen. Die Produktionsfirma muss sämtliches Filmmaterial löschen, ohne dass die Darsteller Schadenersatz leisten müssen.

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