Energieversorgung

Chemie­industrie im Erdgas­poker

Die Chemie wird von hohen Rohstoffpreisen und Gasmangel hart getroffen. Würde die dritte Stufe des Gasnotfallplans ausgerufen, müsste die Branche zittern, ob alle Anlagen weiterlaufen können.

Chemie­industrie im Erdgas­poker

Von Sabine Wadewitz, Frankfurt

Die Chemieindustrie steht wie kaum jemals zuvor auf der politischen Bühne. Als energieintensive Branche werden die Hersteller von Kunststoffen, Farben, Vitaminen oder Fasern vom Anstieg der Rohstoffpreise und von einer drohenden Gasknappheit bis ins Mark getroffen. Die deutschen Chemiekonzerne haben in den vergangenen Jahren zudem intensiv auf Erdgas umgestellt, um ihre CO2-Bilanz nach unten zu bringen. Das wird nun zum Verhängnis.

Die Branche bereitet sich unter Hochdruck auf einen möglichen Versorgungsnotstand vor, hofft aber gleichzeitig, bei einer staatlichen Rationierung von Erdgas bevorzugt zu werden, weil sie als systemrelevante Industrie am Anfang fast aller Wertschöpfungsketten steht. Denn sonst droht eine Kettenreaktion über alle Industriezweige hinweg. Das könnte erhebliche Verwerfungen in der gesamten Wirtschaft auslösen, so die eindringliche Mahnung aus den Unternehmen.

Kostenfaktor

Bislang ist die Gasversorgung vollumfänglich gesichert. Es herrscht kein Mangel, doch die Firmen ächzen unter den drastisch gestiegenen Energiekosten. Diese Belastungen schlagen unterschiedlich stark ins Kontor, je nachdem in welchem Umfang die Chemieproduzenten die Energiekosten an ihre Abnehmer weitergeben können.

Speziell mittelständische deutsche Firmen senden Hilferufe, warnt der Chemieverband VCI. Aber auch in global aktiven großen Konzernen ist das Bild nicht einheitlich. So hat der Kunststoffhersteller Covestro gerade zum zweiten Mal in diesem Jahr seine Gewinnprognose gesenkt und dies mit signifikant gestiegenen Energiekosten und der sich weiter abschwächenden Weltwirtschaft begründet. BASF dagegen hatte zuvor ihre Vorhersage zuversichtlicher gefasst, aber auch vor der konjunkturellen Eintrübung und ihren Folgen gewarnt.

Europa hinkt hinterher

Im zweiten Quartal war die Entwicklung regional sehr unterschiedlich. Die weltweite Produktion stieg nur noch um 1,3%, während es in der Vorjahreszeit aufgrund der Nachholeffekte aus den Corona-Lockdowns um fast 10% nach oben gegangen war (siehe Grafik). China, der mit Abstand größte Chemiemarkt, steigerte die Produktion im zweiten Quartal um 3,1%, gefolgt von Nordamerika mit 2,5%. Dabei war die Situation im Reich der Mitte auch von April bis Juni dieses Jahres von Lockdowns in größeren Städten gebremst. In der EU schrumpfte die Produktion dagegen in den drei Monaten bereits um 2,6%, in Asien ohne China ging es um 0,6% bergab. Risiken aus steigenden Covid-19-Infektionszahlen können sich auch im weiteren Jahresverlauf ergeben.

Mit Blick auf mögliche Gas-Versorgungsengpässe ist die Chemie zweifach gebeutelt, denn sie nutzt Erdgas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoff. Beim weltgrößten Anbieter BASF verteilt sich der Bedarf hier am großen Standort Ludwigshafen auf je die Hälfte.

BASF-Chef Martin Brudermüller hat zuletzt betont, sein Unternehmen komme in den Vorbereitungen zur Substitution von Erdgas, beispielsweise durch Heizöl, gut voran, genauso wie in der Optimierung der Anlagen. Anlagen, die sehr großen Bedarf an Erdgas haben, werden gedrosselt – etwa die für das in der Düngemittelindustrie wichtige Ammoniak. Hier lohnt sich die Produktion bei den aktuellen Rohstoffpreisen nicht mehr, zudem kann Ammoniak extern zugekauft werden. Das ist bei anderen gasintensiven Produkten aber nicht möglich. Covestro etwa warnt, dass es in der Produktion des Schaumstoff-Vorprodukts MDI aktuell noch keinen Ersatzrohstoff gibt.

Das Ausrufen des Gasnotfallplans durch die Bundesregierung hat die Unternehmen zusammenrücken lassen, Kooperation über die Branchen hinweg wird in Berlin eingefordert. BASF-Chef Brudermüller hat jüngst einen Einblick gegeben. Um temporäre und regionale Versorgungslücken hierzulande zu vermeiden und die Gasspeicher wie geplant zu füllen, seien alle Marktteilnehmer wie Gaslieferanten, Gashändler oder Netzbetreiber verpflichtet worden, koordiniert vorzugehen. Zu diesem Zweck habe die Bundesregierung dem Marktgebietsmanager Trading Hub Europe eine zusätzliche Kreditlinie von 15 Mrd. Euro für den Gaseinkauf gewährt. BASF nehme wie andere Marktakteure an einem Krisenstab teil, der dem Bundeswirtschaftsministerium täglich Bericht erstatte.

Priorisierung

Zum Schwur kommt es für alle Marktteilnehmer, würde die dritte und letzte Notfallstufe ausgerufen. Der Bundesnetzagentur kommt in dem Fall die Aufgabe zu, als „Bundeslastverteiler“ im Benehmen mit den Netzbetreibern die Gasverteilung zu regeln. Dann läuft es nicht mehr nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien, es geht um den Schutz bestimmter Gruppen – Privathaushalte, soziale Einrichtungen, Krankenhäuser und Pflegeheime. Aber auch Industrieunternehmen, die wichtige Produkte für die Gesellschaft herstellen, werden bevorzugt bedient. Die Chemie rechnet sich in dem Poker gute Karten aus, um den Betrieb ihrer Anlagen aufrechtzuerhalten.

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