Evergrande

Chinas größte Baustelle

Die Liquiditätsnöte von Evergrande sind nicht mehr nur ein Problem für Investoren. Auch Peking muss sich Gedanken um Ansteckungsgefahren machen.

Chinas größte Baustelle

Wenn es etwas gibt, was den chinesischen Mittelstandsbürger völlig aus dem Häuschen bringt, dann die Gefahr, dass ein Immobilienentwickler, bei dem man auf Vorkasse eine Wohnung gekauft hat, pleitegeht und das angekündigte Bauprojekt in den Sternen steht. Dann kommt es ähnlich wie bei einem Run auf gefährdete Banken zu wütenden Panik- und Protestaktionen, mit denen aufgebrachte Wohneigentümer in spe ihr Recht einfordern. Wenn es wiederum etwas gibt, das den autoritären chinesischen Staat die Contenance verlieren lässt, dann die Gefahr, dass an sich rechtschaffene und parteigehorsame Chinesen aus Sorge um verlorenes Geld zum Wutbürger werden und eine Panikwelle sich zur Massenbewegung verdichtet.

Wackelige Immobilienkonzerne sind damit ein Problem, das chinesische Behörden nicht einfach den Konkursrichtern und marktwirtschaftlichen Abwicklungsprozeduren überlassen mögen, sondern im Zweifelsfall durch Stützungseingriffe auf lokaler Ebene zu regeln versuchen. Wenn es sich allerdings um einen chinaweit aufgestellten Immobilienriesen handelt, der wegen Überschuldung ins Wanken kommt, wird auch die Pekinger Zentralregierung hellhörig.

Chinas führender Wohnimmobilienentwickler Evergrande Group hat sich nach einem wahnwitzigen Expansionsritt in den vergangenen Jahren erst zu einem Darling der Märkte gemacht, dem Aktionäre und Bondinvestoren gerne Geld hinterherwerfen, um nun zum absoluten Buhmann zu verkommen. Seit Februar hat sich die Liquiditätslage des weltweit höchstverschuldeten Immobilienentwicklers so drastisch verschlechtert, dass man nicht länger absehen kann, wie die Gruppe ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber Lieferanten, Baupartnern, Kreditgebern und Bondgläubigern aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten vermag.

Evergrande wäre zwar bei weitem nicht der erste heimische Immobilienentwickler, der in diesem Jahr eine Anleihe oder einen Bankenkredit platzen ließe, aber der erste, der groß und wichtig genug ist, nicht nur das Kapitalmarktumfeld für die Immobilienbranche zu vergiften, sondern auch im chinesischen Bankensystem ernsten Schaden anzurichten. Schlimmer noch droht eine Ansteckungsgefahr in Form eines Vertrauensverlusts beim Massenpublikum, der Chinas gigantischen Immobilienmarkt durch­einanderwirbelt und andere hoch verschuldete Bauträger in die Bredouille bringt.

Spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008 weiß man um die Gefahren von sogenannten systemrelevanten und stark vernetzten Finanzinstituten, die den Staat vor das Problem des Too-big-to-fail stellen. Man kann systemrelevante Finanzinstitute nicht einfach so pleitegehen lassen, sondern muss sie geeignet auffangen, um einer größeren Wirtschaftskrise zu entgehen. Bei Evergrande, die mit Verbindlichkeiten in einer Größenordnung von über 300 Mrd. Dollar unterwegs ist, scheint sich die Too-big-to-fail-Frage in doppelter Hinsicht zu stellen. Zum einen würde ein völliger Zusammenbruch des Sektorriesen das Bankensystem einer ernsten Belastungsprobe aussetzen, zum anderen ein breiteres gesellschaftliches Problem aufwerfen: Ein Staat, der seine Legitimation in erster Linie daraus bezieht, dass er stets eine schützende Hand über rechtschaffene und parteigehorsame Bürger hält, kann sich eine Vertrauenskrise am Immobilienmarkt nicht leisten.

Tatsache ist, dass Evergrande dazu verdammt ist, mehr Apartments zu verkaufen, um überlebensfähig zu bleiben, aber nicht genügend Cash-Reserven hat, um diese fertigbauen zu lassen, ihre Zulieferer und Vertragspartner zu bezahlen und auch noch lästige Kredit- und Anleihegläubiger pünktlich zu bedienen. Die Liquiditätsklemme setzt nämlich einen Teufelskreis in Gang, wenn Bauprojekte zum Stillstand kommen und die Bürger auf die Straße gehen.

Irgendetwas muss nachgeben, damit sich Evergrande aus der Klemme befreit, beziehungsweise Zeit gewinnt, um über den Verkauf von Randaktiva und Bauprojekten mehr finanziellen Spielraum zu erhalten. Gleichzeitig wurden Banken angewiesen, Kreditfälligkeiten nach hinten zu verschieben, damit Evergrande seinen Verpflichtungen am Anleihemarkt nachkommen kann. Nun aber scheint die Rechnung nicht mehr aufzugehen, weil Evergrandes Zahlungsnot das breite Publikum beunruhigt. Vielleicht müssen doch die Dollar-Bond-Gläubiger als Erstes daran glauben und einen Schuldenschnitt in Kauf nehmen. Schließlich sind die Kurse schon so weit gefallen, dass hier keine Panik mehr droht, weil das Risiko voll eingepreist ist.

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