EuGH

Das Dilemma der Wettbewerbs­hüter

Es ist gut, wenn Europas Wettbewerbshüter in Brüssel lieber etwas zu viel als zu wenig Kampfgeist und Härte beweisen.

Das Dilemma der Wettbewerbs­hüter

­Der Chip-Riese Qualcomm bekommt fast 1 Mrd. Euro von der EU-Kommission zurück, Konkurrent Intel sogar noch etwas mehr. Eon und Suez haben vor einiger Zeit mehr als 200 Mill. Euro zurückerstattet gekriegt, ebenso der Pharmakonzern Servier. Und viele andere, darunter Luftfrachtfirmen oder Infineon, haben in den vergangenen Jahren ebenfalls millionenschwere Beträge rücküberwiesen bekommen.

Das liegt nicht etwa daran, dass in der EU-Kommission Spendierlaune herrscht. Sondern daran, dass der Europäische Gerichtshof, der EuGH, Geldbußen gekürzt oder gekippt hat, zu denen Europas oberste Wettbewerbshüter zuvor große und kleine Unternehmen wegen Preisabsprachen, wegen Knebelverträgen oder wegen aggressiver Steuervermeidung verdonnert hatten. Beispielsweise weil die Richter moniert haben, dass die EU-Beamten den Unternehmen nicht ausreichend Möglichkeit gegeben haben, sich zu verteidigen. Dass sie Märkte, Marktanteile und potenzielle Marktverwerfungen falsch eingeschätzt haben. Oder weil das Gericht die Begründung der Strafe schlicht nicht überzeugend fand.

Da drängt sich der Eindruck auf, dass die EU-Wettbewerbshüter schlampig arbeiten. Ein Europaabgeordneter sah sich diese Woche gar zur Schelte veranlasst, die „regelmäßigen“ Niederlagen vor Gericht seien „peinlich“ und bedeuteten angesichts der damit verbundenen Rückzahlungen „ein Haushaltsrisiko“.

Na ja, gemach! Erstens werden in der weit überwiegenden Zahl der Fälle Wettbewerbsstrafen entweder nicht angefochten, vom EU-Gericht bestätigt oder nur marginal korrigiert. Die oben genannten Beispiele von Intel, Qualcomm & Co. sind also die Ausnahme. Meist ziehen Google, Scania und viele andere erfolglos vor Gericht. In einigen wenigen Fällen wird die Höhe der Strafe durch den EuGH sogar nachträglich noch heraufgesetzt – die Anrufung des Gerichts ist für Firmen also nicht ganz risikolos.

Zweitens muss berücksichtigt werden, dass die Bemessung von Strafen in wettbewerbsrechtlichen Klagen generell Interpretationsspielräume eröffnet, beispielsweise bei der Kalkulation der finanziellen Auswirkungen von Gebietsaufteilungen zwischen Konzernen. Wenn das Gericht also die Höhe von Geldbußen korrigiert, heißt das noch lange nicht, dass kein erheblicher Verstoß gegen Wettbewerbsregeln stattgefunden hat. Das gilt vor allem in den Fällen, in denen es um den Vorwurf der aggressiven Steuervermeidung mittels sogenannter Steuervorbescheide geht. Insbesondere der Fall Apple, der wegen der geforderten Steuernachzahlung von 13 Mrd. Euro zu den spektakulärsten wettbewerbsrechtlichen Auseinandersetzungen zählt, hat vor zwei Jahren gezeigt, dass es längst nicht reicht, augenscheinlich aggressive Steuervermeidungstaktiken zu dokumentieren. Die Beweislast der EU-Kommission umfasst eben auch den Nachweis eines selektiven Vorteils, und der ist sogar bei extrem großzügigen Absprachen schwierig – oft ein Dilemma für die Wettbewerbshüter.

Gewiss, individuelle Verfahren gegen einzelne Unternehmen können allgemeine Regeln nicht ersetzen. Um im Beispiel zu bleiben: Allzu kreativer Steueroptimierung von Konzernen muss die Politik durch Gesetze einen Riegel vorschieben, nicht allein durch Strafen gegen auffällige Steuervermeider. Trotzdem ist wichtig, dass die EU-Kommission nicht flankierend auf die Waffe des Wettbewerbsrechts verzichtet. Denn selbst wenn einige kartellrechtliche EU-Strafbeschlüsse vom EU-Gerichtshof gestutzt oder sogar für nichtig erklärt werden, entfalten sie doch abschreckende Wirkung – etwa bei staatlichen Finanzbeamten, die nach dem öffentlichkeitswirksamen Streit über die Steuervorbescheide von Apple heute gewiss vorsichtiger sind, Konzernen unanständig großzügige Steuerdeals anzubieten.

Insofern überschreitet die EU-Kommission nicht ihren Auftrag, wenn sie offensiv gegen Kartell-, Beihilfe- oder Steuersünder vorgeht und sich dabei vor allem mit den ganz Großen anlegt – selbst wenn gerade diese Konzerne genug Geld haben, um ganze Bastionen von Anwälten und Beratern in die Auseinandersetzung mit Brüssel zu schicken, was wiederum für die EU-Kommission das Risiko erhöht, vor Gericht Schlappen zu erleiden. Es ist daher gut, wenn die Wettbewerbshüter lieber etwas zu viel als zu wenig Kampfgeist und Härte beweisen. Schließlich geht es nicht um Kavaliersdelikte oder Lausbubenstreiche, sondern um Kartelle, die den Wettbewerb unterlaufen. Um Marktmissbrauch, der Innovationen ausbremst. Und um unlautere Steuerabsprachen, die das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger in Europa korrumpieren.

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