China

Demografischer Schock mit Ansage

China wird von einer demografischen Wende erfasst. Die Bevölkerung schrumpft. Die zuletzt stark sinkende Geburtenrate ist auch Ausdruck sozialer Unzufriedenheit und gravierender Verfehlungen in der Familien- und Gesundheitspolitik.

Demografischer Schock mit Ansage

Chinas Staatsmedien sind nicht gerade zurückhaltend, wenn es um Berichte zur Größe und Glorie der Nation geht. Über Schrumpfungen und deren Hintergründe wird indes weniger gerne informiert. Als Faustregel kann gelten, dass das wahre Ausmaß einer krisenhaften Situation daran erkennbar wird, wie beiläufig Chinas offizielle Medienkanäle damit umgehen. Kürzlich ist das Pekinger Statistikbüro neben Daten zu Konjunktur und Wirtschaftswachstum auch mit einer Statistik zur Bevölkerungsentwicklung im Jahr 2022 herausgerückt, die man als echten Hingucker bezeichnen kann. Erstmals seit 60 Jahren hat sich Chinas Bevölkerung zurückgebildet.

Die News stößt in Staatsmedien aber auf verdächtiges Desinteresse und wurde auch von den Sprechern der Behörde nur äußerst schmallippig dargeboten. Die Sache scheint also ernst zu sein. In der Tat zeichnet sich eine entscheidende Wende in der demografischen Entwicklung des offiziell noch bevölkerungsreichsten Landes der Erde ab. Von nun ab geht die Reise abwärts. Zuletzt wurden 1,412 Milliarden Einwohner im Reich der Mitte gezählt, das bedeutet einen Rückgang um 850000 gegenüber 2021 und unterstreicht den demografischen Trend, den Ökonomen als alarmierend ansehen. Bereits in der laufenden Dekade werden sich negative Auswirkungen einer Überalterung der Gesellschaft bemerkbar machen. Dies dürfte einen zügigen Anpassungsbedarf der Rentensysteme und sozialen Absicherungsstrukturen auslösen – eine Herausforderung, der sich Regierung und Parteiführung bislang nicht einmal ansatzweise gestellt haben. In Reaktion auf die neue Statistik heißt die lapidare öffentliche Botschaft des Staates lediglich, dass Chinas „demografische Dividende“ nicht in Gefahr sei und die Zahl der arbeitenden Bevölkerung die Beschäftigungsnachfrage weiter übersteige.

Aufschwung in Gefahr?

China-Ökonomen sehen jedoch einen entscheidenden Faktor für den seit über 40 Jahren währenden kontinuierlichen Wirtschaftsaufschwung kompromittiert. Die demografische Dividende als wirtschaftlicher Nutzen einer Veränderung der Altersstruktur in einem Land entfaltet sich über einen günstigen Anteil von Menschen im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung. Für Schwellenländer mit tendenziell niedrigerer Produktivität stellt dies einen besonders wichtigen Wachstumstreiber dar. Sicherlich gehen die Meinungen darüber auseinander, wie schnell sich demografische Veränderungen als tatsächliche Wachstumsbremse erweisen. Im Falle Chinas kann man aber jetzt bereits sagen, dass die demografische Dividende als struktureller Wachstumstreiber ausgedient hat. Mit anderen Worten: Die Populationsdynamik wird sich in Zukunft nicht mehr als Anschubhilfe, sondern als Gegenwind darstellen. Chinas Wirtschaftsplaner werden auf verstärkte Produktivitätsgewinne angewiesen sein, um das Wachstumstempo halten zu können.

Seit der Gründung der Volksrepublik hatte man nur einmal einen Rückgang der Bevölkerung erlebt, und zwar Anfang der 60er Jahre beim „Großen Sprung nach vorn“, als eine fehlgeschlagene kommunistische Wirtschaftsoffensive schwere Hungersnöte auslöste, denen mehrere Millionen Chinesen zum Opfer fielen. Danach kam es aber zu einem gewaltigen Anstieg des Bevölkerungswachstums, der die Staatsführung Ende der 70er Jahre zur Einführung der „Einkindpolitik“ als radikale Maßnahme zur Begrenzung der Geburtenrate bewog.

Die Ausdünnung der Bevölkerungszahl in China fußt auf einem starken Rückgang der Geburtenrate. 2022 kamen in China 9,56 Millionen Babys nach zuvor 10,62 Millionen 2021 zur Welt. Die Geburtenrate (Anzahl der Geburten pro 1000 Einwohner) fiel von 7,52 2021 auf rekordtiefe 6,77. Bevölkerungswissenschaftler gehen davon aus, dass sich der Rückgang der Geburtenrate im Zuge von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren weiter beschleunigen wird.

Hinzu kommt Corona. Derzeit grassiert eine Ansteckungswelle mit einem rapiden Anstieg der Sterbefälle, wobei Experten mit mehr als einer Million Corona-Toten in China rechnen. Allein wegen der erhöhten Sterblichkeit ist ein deutlicherer Bevölkerungsrückgang im Jahr 2023 bereits vorprogrammiert. Auch auf der Geburtenseite aber droht sich Chinas verheerende Corona-Politik des letzten Jahres weiter negativ auszuwirken. Aus der Beschränkung des Zugangs zu medizinischer Versorgung in Zeiten von harten Lockdowns und anderen Restriktionen ist eine Vorsichtshaltung bei jungen Paaren entstanden, die das Kinderkriegen als überaus riskante Aktion erscheinen lässt. Dieser Eindruck hat sich nach dem plötzlichen Wegfall aller Restriktionen ohne jegliche gesundheitspolitische Vorbereitung noch erheblich verstärkt.

Tatsächlich ist die Diskussion über „Long Covid“, also längerfristige Folgen einer Corona-Ansteckung und die daraus entstehenden gesundheitlichen Gefahren für Neugeborene gegenwärtig ein absolut beherrschendes Thema. Hinzu kommen wirtschaftliche Folgen der mehrjährigen Pandemie-Restriktionen in Form von Einkommensverlusten, erhöhter Arbeitslosigkeit in der jüngeren Bevölkerung, mauem Konsum- und Investitionsvertrauen und einer ansteigenden Sparneigung. Kinderkriegen ist in China oft auch aufgrund eines unbewussten ökonomischen Entscheidungskalküls in der breiteren Bevölkerung alles andere als das Gebot der Stunde.

Es gibt Soziologen, die aus der Beobachtung der Social-Media-Trends der letzten Monate eine so noch nie da gewesene Trotzhaltung vor allem in der weiblichen Bevölkerung erkennen wollen. Bis zum Jahr 2016 wurde die Einkindpolitik mit teils drakonischen Strafen durchgesetzt. Dann folgte die Erlaubnis für ein zweites Kind. Seit 2021 gilt nun eine Dreikindpolitik, wobei der Fokus nicht mehr auf Beschränkung liegt, sondern auf sozialem Druck zur Steigerung der durchschnittlichen Kinderzahl einer Familie. Die Methoden der Partei passen nicht zu einer modernen Leistungsgesellschaft. Die jahrzehntelange Gängelung durch die staatliche Geburtenpolitik, der Frust über anhaltend frauenfeindliche Gesellschaftsstrukturen und eine rein männlich besetzte politische Führungsriege erzeugen im Verbund mit den Corona-Erfahrungen ein explosives Stimmungsgemisch.

Es weht ein Hauch von Rebellion über das Land – inklusive Auseinandersetzung über von der Partei verordnete Rollenbilder, die sich in einem regelrechten Geburtenstreik zu manifestieren scheint. Peking steht vor enormen Herausforderungen in der Sozial- und Gesundheitspolitik, die darüber entscheiden werden, wie heftig Chinas Wirtschaft künftig durch demografischen Gegenwind abgebremst wird.

China noch an der Spitze
bei offiziellen Einwohnerzahlen
Bevölkerung (Mill.)
RangLand20222030
1China1,4121,416
2Indien1,3731,528
3USA 333 356
4Indonesien 275 295
5Pakistan 229 245
6Nigeria 216 263
7Brasilien 215 228
8Bangladesch 168 186
9Russland 147 149
10Mexiko 128 148
Quelle: Wikipedia; Adobe StockBörsen-Zeitung
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